Die Glasfresser
diskutiert, doch es ist wichtig. Außerdem könnten wir ihn auch aus der Wohnung entführen wollen. Besser also zu wissen, wie es dort aussieht.
Wir erreichen den Eingang, gehen die schmale Treppe hoch und kommen vor einer angelehnten Wohnungstür an. Morana öffnet sie, und wir treten ein. Die Wohnung hat eine gewisse Würde. Man merkt ihr an, was es bedeutet, jeden Tag gegen den Impuls anzukämpfen, einfach aufzugeben. Es herrscht eine passable Sauberkeit, eine Vorstellung von Ordnung. Der Hausrat ist gewöhnlich, doch man lebt ja in einfachen Verhältnissen, den
Hintergund muss man nehmen, wie er ist. Geschliffenes Kristall auf allen waagrechten Flächen; an den Wänden Bildchen, die mit dem Mund der Nase den Ohren gemalt sind - eine Ausstellung deformierter Kleinkunst. Mehr als vorhersehbar sitzt eine pummelige Puppe in der Mitte des Sofas, die Beine gespreizt, den Saum des Rocks aus Atlasstoff gehoben, ein ganzes System von Unterröcken und Spitzen darunter, die Lippen halb geöffnet und schwarze Flecken auf der Stirn: Ausdruck dafür, seit Jahren jeden Tag von allen missbraucht zu werden. Und dann die kleine Flasche Coca-Cola auf dem Fernseher, zwei Bougainvilleazweige, grün und violett; eine schier unfassbare Menge überall verteilter Spitzendeckchen, der Versuch, die Abgründe des Haushalts zu verbergen.
Morana geht in die Küche und kommt mit einem Glas Wasser zurück. Ich nehme es, sehe es mir an, es hat einen feuchten Rand, stand gerade zum Trocknen da. Ich versuche es anzuhauchen und mit einem Ärmel zu säubern. Ich stelle mir die anderen Münder vor, die es benutzen: Mich mit den Lippen zu nähern würde bedeuten, Morana zu küssen, seine Familie und sein Leben. Also behalte ich das Glas in der Hand und warte den richtigen Moment ab, es auf ein Spitzendeckchen zu stellen und in Vergessenheit geraten zu lassen. In der Zwischenzeit ist Morana durchs Wohnzimmer gegangen und hat eine Glastür geöffnet, die auf einen überdachten Balkon mit einer Seitenlänge von wenigstens zehn Metern führt. Der Fußboden des Balkons ist mit Traubenästen übersät: kleine Zweige ohne Beeren, an denen der Wind sanft zerrt, nervöse Bewegungen pflanzlicher Insekten. Sie erzeugen bei mir ein Gefühl von Schmutz, wenn auch nur leicht. Ich stelle keine Fragen und sehe, dass jeder Traubenkamm einen anderen Grad von Trockenheit hat: Geduld, Hierbleiben, Warten. Ich bemerke, dass in einer Ecke ein großer roter Plastikbehälter mit Griffen steht, ein breiter, tiefer Waschbottich, und daneben eine Art Hühnerstall aus Holz mit einer Öffnung in der Mitte. Ich denke an das Lager eines Hundes und sehe eine Gans. Morana bemerkt mein Erstaunen und ist zufrieden.
»Wir haben sie von der Fiera del Mediterraneo«, sagt er.
Er hat die Stimme von einem, der sich schämt. Ich weiß nicht, ob für das, was er sagt, oder dafür, wie er es sagt, vielleicht ist ihm sein Dialekt bewusst, und seine Stimme klingt so dünn, weil er sich geniert.
»Letztes Jahr«, fährt er fort. »Da war sie noch klein.«
Jetzt, denke ich, ist sie nicht mehr klein. Sie ist eine ausgewachsene Gans, groß, weiß und fett. Sie sieht mich an, unbeweglich zwischen dem Waschbottich und ihrem Lager. Sie lässt mich fühlen, dass sie mehr Rechte hat als ich; nicht nur, hier zu sein: im Allgemeinen. Sie ist bei den Moranas, sie lebt auf dem Balkon; sie leistet Gesellschaft, sie hält Wache, sie ist eine Gans, und als wir uns nähern, rieche ich den strengen, doch guten Geruch ihrer Kacke. Statt Angst zu haben, kommt die Gans näher, die große Brust nach außen gewölbt, dann geht sie zur Seite und beginnt sich zu drehen und zu wenden, zeichnet auf dem Boden das Symbol für unendlich und, sich weiter tummelnd, immer mehr davon, eins auf das andere, als wäre sie durchgedreht, bis sie schließlich einen ersten Fingerbreit Kacke abklemmt, einen zweiten und einen dritten, als hätte sie bis dahin einen Versöhnungstanz aufgeführt und beende jetzt das Ritual; nur dass es nicht das Ende ist und sie fortfährt, das Unendliche zu zeichnen, und da holt Morana aus einer Ecke Zeitungspapier, beginnt ihr zu folgen und sammelt bei jedem Schritt ihrer spiralförmigen Bewegung die lehmige Kacke auf, aus der schwarze und grüne Häutchen zutage treten, und er reibt und rollt zusammen und steckt jedes Röllchen in eine kleine Plastiktüte, die an seinem Unterarm hängt.
Von drinnen hört man Rufe. Eine Frau taucht auf, sie isst Trauben. Sie nimmt noch eine Traube und wirft dann
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