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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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Willensanstrengung hatte ich mich durch das erste Halbjahr geschleppt.
    Deshalb ging ich mit einem ausgeklügelten Plan zu meiner Mentorin.
    Der Plan sah so aus, daß ich die Zeit für einen Shakespeare-Kurs bräuchte, denn Englisch studierte ich schließlich im Hauptfach. Sie und ich wüßten genau, daß ich auch in Chemie wieder ein glattes A bekommen würde, wozu also die Prüfung machen, warum konnte ich nicht einfach am Unterricht teilnehmen und alles in mich aufnehmen, aber ohne an Zensuren und Punkte denken zu müssen? Es war eine Ehrensache unter Ehrenleuten, der Inhalt war schließlich wichtiger als die Form, und Noten waren doch eigentlich auch ein bißchen albern, wenn man ohnehin wußte, daß man ein A bekommen würde, nicht wahr? Meinem Plan kam zugute, daß das College das zweite naturwissenschaftliche Pflichtjahr für die nach mir kommenden Jahrgänge ohnehin abgeschafft hatte, so daß meine Klasse als letzte unter der alten Regelung zu leiden hatte.
    Mr. Manzi war mit meinem Plan völlig einverstanden. Ich glaube, er fühlte sich geschmeichelt, weil ich seinen Unterricht so schätzte, daß ich auch ohne materialistische Motive wie Punkte und ein A, um der bloßen Schönheit der Chemie willen daran teilnehmen wollte. Ich kam mir sehr raffiniert vor mit meinem Vorschlag, auch nach dem Wechsel zu Shakespeare den Chemiekurs zu besuchen. Die Geste war ganz unnötig und erweckte den Anschein, als könnte ich es einfach nicht ertragen, die Chemie aufzugeben.
    Selbstverständlich wäre ich mit meiner List nie durchgekommen, wenn ich nicht zuerst dieses A geschafft hätte. Und wenn meine Mentorin geahnt hätte, welche Ängste ich ausstand, wie bedrückt ich war und wie ernsthaft ich verzweifelte Ausflüchte erwog, etwa ein ärztliches Attest, ich sei untauglich für das Chemiestudium, die Formeln würden mich schwindelig machen, und dergleichen, dann hätte sie mich gewiß keinen Moment lang angehört, sondern hätte mich den Kurs trotzdem machen lassen.
    So jedoch genehmigte der Fakultätsausschuß mein Gesuch, und meine Mentorin erzählte mir später, einige Professoren seien geradezu gerührt gewesen. Sie hätten darin ein Zeichen von echter geistiger Reife erkannt.
    Ich mußte lachen, wenn ich an den weiteren Verlauf des Jahres dachte. Ich besuchte den Chemieunterricht fünfmal in der Woche und ließ keine einzige Stunde aus. Mr. Manzi stand tief unten in dem alten, wackligen Amphitheater und erzeugte blaue Flammen und rote Blitze und gelbe Wolken, indem er den Inhalt eines Reagenzglases in ein anderes schüttete, während ich meine Ohren gegen seine Stimme verschloß, indem ich so tat, als sei sie eine Mücke in der Ferne, mich zurücklehnte, das Farben-und Feuerspiel genoß und ein Blatt nach dem anderen mit Villanellen und Sonetten bedeckte.
    Hin und wieder blickte Mr. Manzi zu mir hoch, sah mich schreiben und schenkte mir ein niedliches, kleines, anerkennendes Lächeln. Er glaubte wohl, ich würde all die Formeln nicht wie die anderen Mädchen für die Prüfung mitschreiben, sondern weil mich seine Art der Darstellung so sehr faszinierte, daß ich einfach nicht anders konnte.

Vier
    Ich weiß nicht, warum mir meine erfolgreiche Flucht aus der Chemie ausgerechnet in Jay Cees Büro einfiel.
    Während sie sprach, sah ich die ganze Zeit Mr. Manzi wie aus einem Hut gezaubert hinter ihrem Kopf schweben, in der einen Hand die kleine Holzkugel, in der anderen das Reagenzglas, aus dem am Tag vor den Osterferien eine große gelbe Rauchwolke quoll, nach faulen Eiern roch und alle Mädchen und auch Mr. Manzi zum Lachen brachte.
    Mr. Manzi tat mir leid. Am liebsten wäre ich auf Händen und Knien zu ihm gekrochen und hätte mich dafür entschuldigt, daß ich ihn so grausam belogen hatte.
    Jay Cee übergab mir einen Stoß Manuskripte mit Geschichten und sprach nun wieder viel freundlicher mit mir. Im Laufe des Morgens las ich die Geschichten und tippte, was ich von ihnen hielt, auf rosa Memo-Blätter, die ich an das Büro von Betsys Redakteurin schickte, damit Betsy sie am nächsten Tag lesen konnte. Jay Cee unterbrach mich hin und wieder, um mir irgendeinen Tip zu geben oder ein bißchen zu tratschen.
    Zum Mittagessen war sie mit zwei berühmten Schriftstellern verabredet, einem Mann und einer Frau. Der Mann hatte eben sechs Kurzgeschichten an den New Yorker und sechs an Jay Cee verkauft. Das überraschte mich, weil ich nicht wußte, daß Zeitschriften Geschichten im Sechserpack ankaufen, und bei dem Gedanken an

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