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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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war. Ich nahm an einem dieser Honors-Programme teil, bei denen man selbständig denken lernt, und abgesehen von einem Kurs über Tolstoi und Dostojewski und einem Seminar über Bauformen des Gedichts für Fortgeschrittene würde ich die ganze Zeit an einer Arbeit über irgendein unklares Thema in den Werken von James Joyce schreiben. Ich hatte mich noch nicht für ein Thema entschieden, weil ich Finnegans Wake noch nicht zu Ende gelesen hatte, aber meine Professorin war an meiner Arbeit sehr interessiert und hatte versprochen, mir ein paar Hinweise zum Motiv der Zwillinge zu geben.
    »Ich will sehen, was sich machen läßt«, sagte ich zu Jay Cee. »Wahrscheinlich kann ich noch einen von diesen Intensivkursen in Deutsch einschieben, die da jetzt angeboten werden.« Damals glaubte ich, ich könnte das wirklich schaffen. Ich hatte meine Mentorin schon einmal überredet, mich etwas tun zu lassen, das gegen die Vorschriften war. Sie sah in mir eine Art interessantes Experiment.
    Am College hatte ich einen Pflichtkurs in Physik und Chemie belegen müssen. Einen Kurs in Botanik hatte ich schon absolviert und war sehr gut zurechtgekommen. Das ganze Jahr über hatte ich keine einzige Testfrage falsch beantwortet, und eine Zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, Botanikerin zu werden und die wilden Steppen Afrikas oder die südamerikanischen Regenwälder zu erforschen, denn für die Erforschung solcher entlegenen Sachen in komischen Gegenden kann man hoch dotierte Stipendien viel leichter bekommen, als wenn man in Italien Kunst oder in England Englisch studieren will. Die Konkurrenz ist nicht so groß.
    Botanik gefiel mir, weil ich gern Blätter zerschnitt und unter das Mikroskop schob und gern Diagramme über das Wachstum des Brotschimmels zeichnete oder das sonderbare herzförmige Blatt im Entwicklungszyklus des Farns. Das alles kam mir sehr real vor.
    An dem Tag, an dem ich mit Physik begann, war es damit zu Ende.
    Ein kleiner dunkelhaariger Mann mit hoher, lispelnder Stimme namens Mr. Manzi stand in einem knappen blauen Anzug vor der Klasse und hielt eine kleine Holzkugel in der Hand. Er legte die Kugel auf eine steile, mit einer Rinne versehene Rutsche und ließ sie nach unten laufen. Dann hieß es, a sei gleich Beschleunigung und t gleich Zeit, und plötzlich bekritzelte er die Tafel mit Buchstaben und Zahlen und Gleichheitszeichen, und mein Kopf wurde taub.
    Ich nahm das Physikbuch mit ins Wohnheim. Es war ein dickes Buch auf rauhem Umdruckpapier – vierhundert Seiten ohne Zeichnungen oder Fotos, nur Diagramme und Formeln – zwischen ziegelroten Pappdeckeln. Dieses Buch hatte Mr. Manzi selbst geschrieben, um College-Studentinnen die Physik zu erklären, und wenn es sich bei uns bewährte, würde er versuchen, es zu veröffentlichen.
    Ich studierte diese Formeln, ich besuchte den Unterricht, ich sah Kugeln Bahnen herunterrollen und hörte Glöckchen klingeln, und am Ende des Semesters waren die meisten anderen Mädchen durchgefallen, ich hingegen hatte ein glattes A. Ich hörte, wie Mr. Manzi zu einer ganzen Traube von Mädchen, die sich beschwerten, der Kurs sei zu schwierig gewesen, sagte: »Nein, zu schwer kann er nicht gewesen sein, denn ein Mädchen hat ein glattes A.« – »Wer? Sagen Sie uns, wer!« drängten sie, aber er schüttelte den Kopf und sagte nichts, sondern warf mir nur ein niedliches, kleines Verschwörerlächeln zu.
    Das brachte mich auf die Idee, wie ich der Chemie im nächsten Semester entgehen konnte. Ich hatte zwar ein glattes A in Physik – trotzdem hatte mich Panik ergriffen. Von der Beschäftigung mit Physik wurde mir regelrecht übel. Ich konnte es nicht ertragen, wie da alles zu Buchstaben und Zahlen schrumpfte. Statt Blattformen und vergrößerten Schaubildern der Löcher, durch die die Blätter atmen, und statt faszinierender Wörter wie Karotin und Xanthophyll standen auf der Tafel nur diese häßlichen, verkrampften, mit Skorpionbuchstaben durchsetzten Formeln in Mr. Manzis roter Spezialkreide.
    Ich wußte, Chemie würde noch schlimmer werden, ich hatte nämlich eine große Tafel mit den über neunzig Elementen im Chemiesaal hängen sehen, und all die wunderbaren Wörter wie Gold und Silber, Kobalt und Aluminium waren zu häßlichen Abkürzungen mit verschiedenen nachgestellten Dezimalziffern geschrumpft. Ich würde verrückt werden, wenn ich mich mit noch mehr von diesem Zeug herumschlagen mußte. Ich würde auf der ganzen Linie versagen. Nur mit einer fürchterlichen

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