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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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war der Gedanke unerträglich, daß die Frau ein einziges, reines Leben führen sollte, während der Mann ein Doppelleben führen durfte, ein reines und ein anderes.
    Zuletzt sagte ich mir, wenn es so schwierig ist, einen vor Leben sprühenden, intelligenten Mann zu finden, der mit einundzwanzig noch rein ist, kann ich mir die Reinheit auch aus dem Kopf schlagen und statt dessen jemanden heiraten, der ebenfalls nicht rein ist. Und wenn er dann anfängt, mich unglücklich zu machen, kann ich ihn ebenfalls unglücklich machen.
    Reinheit war das große Problem, als ich neunzehn war.
    Für mich teilte sich die Welt nicht in Katholiken und Protestanten oder Republikaner und Demokraten oder Weiße und Schwarze, auch nicht in Männer und Frauen, ich sah die Welt gespalten in Leute, die mit jemandem geschlafen hatten, undLeute, die es nicht getan hatten, darin schien mir der einzige bedeutsame Unterschied zwischen den Menschen zu bestehen.
    Ich glaubte, an dem Tag, an dem ich die Grenze überschritte, würde eine spektakuläre Veränderung über mich kommen.
    Ich stellte es mir so vor, wie wenn ich einmal nach Europa käme. Es würde wie eine Heimkehr sein, und wenn ich genau in den Spiegel sah, würde ich ganz hinten in meinem Auge einen kleinen weißen Alpenberg erkennen. Und nun stellte ich mir vor, wenn ich morgen früh in den Spiegel sähe, würde ich einen puppenkleinen Constantin sehen, der in meinem Auge saß und hinauslächelte.
    Ungefähr eine Stunde lang rekelten wir uns auf Constantins Balkon in zwei separaten, wippenden Sesseln, der Plattenspieler spielte, und zwischen uns stapelten sich die Balalaika-Platten. Ein schwaches, milchiges Licht ging von den Straßenlampen oder dem Halbmond oder den Autos oder den Sternen aus, ich konnte nicht erkennen, woher es kam, aber abgesehen davon, daß er meine Hand hielt, zeigte Constantin keinerlei Verlangen, mich zu verführen.
    Ich fragte ihn, ob er verlobt sei oder eine feste Freundin habe, weil ich dachte, darin bestehe vielleicht das Problem, aber er sagte, nein, er gehe prinzipiell keine festen Bindungen ein.
    Schließlich spürte ich, wie mir nach all dem Pinienrindenwein eine starke Schläfrigkeit durch die Adern kroch.
    »Ich glaube, ich gehe rein und lege mich hin«, sagte ich.
    Ich schlenderte ins Schlafzimmer und bückte mich, um die Schuhe abzustreifen. Das frisch bezogene Bett tanzte vor mir wie ein sicheres Boot. Ich streckte mich aus und schloß die Augen. Dann hörte ich, wie Constantin seufzte und vom Balkon hereinkam. Einer nach dem anderen polterten seine Schuhe zu Boden, dann legte er sich neben mich.
    Ich beobachtete ihn verstohlen aus dem Schutz einer herabhängenden Haarsträhne.
    Er lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf, und starrtezur Decke. Die gestärkten, bis zu den Ellbogen hochgekrempelten weißen Hemdsärmel schimmerten geisterhaft im Halbdunkel, und seine gebräunte Haut wirkte fast schwarz. Es kam mir vor, als sei er der schönste Mann, den ich je gesehen hatte.
    Ich dachte, wenn ich ein markantes, schön geschnittenes Gesicht besäße oder kluge Gespräche über Politik führen könnte oder eine berühmte Schriftstellerin wäre, dann fände mich Constantin so interessant, daß er mit mir schlafen wollte.
    Und dann fragte ich mich, ob er, sobald er Gefallen an mir gefunden hätte, in die Gewöhnlichkeit zurückfallen würde und ob ich, sobald er sich in mich verliebt hatte, einen Fehler nach dem anderen an ihm entdecken würde, so wie an Buddy Willard und dem Jungen vor ihm.
    Immer wieder geschah das gleiche:
    Ich erblickte in der Ferne irgendeinen Mann ohne Fehl und Tadel, aber sobald er sich näherte, sah ich, daß er nicht in Frage kam.
    Auch aus diesem Grund wollte ich nicht heiraten. Uneingeschränkte Sicherheit war das letzte, was ich wollte, und ich wollte auch nicht die Stelle sein, von der ein Pfeil abfliegt. Ich wollte Abwechslung und Aufregung und wollte selbst in alle möglichen Richtungen fliegen, wie die farbigen Pfeile bei einer Feuerwerksrakete am Vierten Juli.
    Ich erwachte vom Geräusch des Regens.
    Es war stockdunkel. Nach einiger Zeit erkannte ich die schwachen Umrisse eines ungewohnten Fensters. In regelmäßigen Abständen tauchte von irgendwo ein Lichtstrahl auf, wanderte wie ein geisterhafter, suchender Finger an der Wand entlang und glitt wieder ins Nirgendwo.
    Dann hörte ich jemanden atmen.
    Zuerst glaubte ich, das sei ich selbst, ich läge, nachdem ich mich vergiftet hatte, in meinem dunklen

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