Die Glasglocke (German Edition)
sie mit gespreizten Fingern wie ein Kamm langsam bis zu den Spitzen hindurchgleiten. Ein leichter Stromschlag durchzuckte mich, und ich saß ganz still. Schon als kleines Kind hatte ich es gern gehabt, wenn mir jemand das Haar kämmte.
»Ach so, ich weiß«, sagte Constantin. »Du hast es dir gerade gewaschen.«
Und beugte sich vor, um seine Tennisschuhe zu binden.
Eine Stunde später lag ich in meinem Hotelbett und lauschte dem Regen. Er klang gar nicht wie Regen, er klang wie ein laufender Wasserhahn. Der Schmerz in meinem Schienbein wurde lebendig, und ich gab die Hoffnung auf, noch einmal einzuschlafen, ehe mich mein Radiowecker um sieben mit wackeren Sousa-Märschen aufscheuchen würde.
Immer wenn es regnete, schien sich der alte Beinbruch an sich selbst zu erinnern, und was er sich gemerkt hatte, war ein dumpfer Schmerz.
Dann dachte ich: »Buddy Willard war schuld daran, daß ich mir das Bein gebrochen habe.«
Dann dachte ich: »Nein, ich war selbst schuld. Ich habe es absichtlich getan, zur Strafe dafür, daß ich so ein Schwein gewesen war.«
Acht
Mr. Willard fuhr mich hinauf in die Adirondacks.
Es war der Tag nach Weihnachten, und über uns hing ein grauer Himmel voller Schnee. Ich hatte mich überfressen und war benommen und enttäuscht, wie immer am Tag nach Weihnachten, weil all das, was die Tannenzweige und die Kerzen und die mit Silber-und Goldbändern verschnürten Päckchen und das Birkenholzfeuer und der Weihnachtstruthahn und die Lieder am Klavier versprachen, niemals wirklich eintraf.
An Weihnachten wünschte ich mir fast, ich wäre katholisch.
Zuerst fuhr Mr. Willard, dann fuhr ich. Ich weiß nicht mehr, worüber wir sprachen, aber als sich die schon tief unter altem Schnee begrabene Landschaft von ihrer rauhen Seite zu zeigen begann und die Tannen von den grauen Bergen bis hinunter an die Straße drängten, so dunkelgrün, daß sie schwarz aussahen, da wurde ich immer trübsinniger.
Ich war nahe daran, Mr. Willard zu sagen, er solle allein weiterfahren, ich wollte umkehren und per Anhalter zurück.
Aber ein Blick zu Mr. Willard hinüber – auf das Silberhaar mit dem jungenhaften Bürstenschnitt, die klaren blauen Augen, die rosa Wangen, alles wie eine hübsche Hochzeitstorte überzuckert mit einer unschuldigen, vertrauensseligen Miene –, und ich wußte, daß ich es nicht übers Herz bringen würde. Ich mußte diesen Besuch durchstehen.
Gegen Mittag hellte sich das Grau ein wenig auf, wir hielten an einer vereisten Abzweigung und teilten uns die Thunfisch-Sandwiches, die Plätzchen, die Äpfel und die Thermoskanne mit schwarzem Kaffee, die uns Mrs. Willard zum Lunch eingepackt hatte.
Mr. Willard warf mir freundliche Blicke zu. Dann räusperte er sich und wischte ein paar Krümel von seinem Schoß. Ich spürte, daß er etwas Ernstes sagen wollte, denn er war sehr schüchtern, und ich hatte schon einmal gehört, wie er sich genauso räusperte, bevor er einen wichtigen wirtschaftswissenschaftlichen Vortrag begann.
»Nelly und ich, wir haben uns immer eine Tochter gewünscht.«
Einen irrwitzigen Augenblick lang glaubte ich, Mr. Willard wolle mir mitteilen, Mrs. Willard sei schwanger und erwarte ein Mädchen. Dann sagte er: »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß unsere Tochter netter geworden wäre, als du es bist.«
Mr. Willard glaubte, ich weinte aus Freude darüber, daß er ein Vater für mich werden wollte. »Schon gut, schon gut«, er klopfte mir auf die Schulter und räusperte sich ein-oder zweimal. »Ich denke, wir verstehen uns.«
Dann öffnete er die Wagentür auf seiner Seite und kam auf meine Seite herüber. In der grauen Luft erzeugte sein Atem verwickelte Rauchsignale. Ich rutschte auf den Sitz, den er eben verlassen hatte, er startete den Motor, und wir fuhren weiter.
Ich weiß nicht mehr, was ich von Buddys Sanatorium erwartete. Ich glaube, ich erwartete eine Art hölzernes Schweizerhaus auf dem Gipfel eines kleinen Berges, darin lauter junge Männer und Frauen mit rosigen Wangen, alle sehr attraktiv, aber mit unruhigen, glitzernden Augen, die unter dicken Decken im Freien auf Balkonen lagen.
»Tb ist, als würde man mit einer Bombe in der Lunge leben«, hatte mir Buddy geschrieben. »Man liegt ganz still da und hofft, daß sie nicht hochgeht.«
Ich konnte mir Buddy still daliegend kaum vorstellen. Seine ganze Lebenseinstellung war darauf gerichtet gewesen, in jeder Sekunde unterwegs und aktiv zu sein. Selbst wenn wir im Sommer an den Strand gefahren waren,
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