Die Glasglocke (German Edition)
daß ich sie zunächst nicht wahrgenommen hatte.
Ein Mann mit grauem Gesicht zählte einen Packen Spielkarten durch, eins, zwei, drei, vier … Ich dachte, er wolle feststellen, ob sie vollständig seien, aber als er mit dem Zählen fertig war, fing er wieder von vorn an. Neben ihm spielte eine dicke Frau mit einer Kette aus Holzperlen. Sie schob alle Perlen an ein Ende der Kette und ließ sie dann nacheinander, klick, klick, klick, an das andere Ende rutschen.
Am Flügel blätterte ein junges Mädchen in ein paar Noten, aber als sie bemerkte, daß ich zu ihr hinübersah, zog sie verdrossen den Kopf ein und zerriß die Notenblätter.
Meine Mutter stieß mich an, und ich folgte ihr in das Zimmer. Schweigend saßen wir auf einem unförmigen Sofa, das bei der kleinsten Bewegung quietschte.
Dann glitt mein Blick über die Leute hinweg zu dem strahlenden Grün jenseits der durchsichtigen Vorhänge, und es kam mir vor, als säße ich im Schaufenster eines riesigen Kaufhauses. Die Gestalten ringsum waren keine Menschen, sondern Schaufensterpuppen, wie Menschen geschminkt und aufgestellt in Haltungen, die Leben vortäuschten.
Ich stieg Doktor Gordons Jackenrücken nach.
Unten in der Halle hatte ich versucht, ihn zu fragen, wie die Schockbehandlung sein würde, aber als ich den Mund öffnete, kamen keine Wörter heraus, meine Augen wurden nur größerund starrten in das lächelnde, vertraute Gesicht, das vor mir schwebte wie ein Teller voll freundlicher Beteuerungen.
Hinter dem oberen Treppenabsatz endete der granatrote Teppich. An seine Stelle schob sich einfaches braunes, auf den Boden genageltes Linoleum, das den ganzen, von geschlossenen weißen Türen gesäumten Gang füllte. Während ich Doktor Gordon folgte, öffnete sich irgendwo weiter hinten eine Tür, und ich hörte eine Frau schreien.
An der Ecke des Flurs vor uns tauchte plötzlich eine Krankenschwester auf, die eine Frau in einem blauen Bademantel mit struppigem, bis zur Hüfte herunterhängendem Haar an der Hand führte. Doktor Gordon trat zur Seite, und ich drückte mich an die Wand.
Die Frau fuchtelte mit den Armen und versuchte sich dem Griff der Krankenschwester zu entwinden und rief, während sie weitergezerrt wurde, immer wieder: »Ich springe gleich aus dem Fenster, gleich springe ich aus dem Fenster.«
Die stämmige, stark nach außen schielende Krankenschwester in ihrem vorne bekleckerten Kittel trug eine so dicke Brille, daß mich durch die runden Gläser vier Augen anstarrten. Ich versuchte herauszufinden, welches die richtigen und welches die falschen Augen waren und welches von den richtigen Augen das schielende und welches das gerade war, da schob sie ihr Gesicht mit einem breiten, verschwörerischen Grinsen vor meines und zischte, als wollte sie mich beruhigen: »Die glaubt, sie würde gleich aus dem Fenster springen, aber das kann sie gar nicht, die sind nämlich alle vergittert!«
Und als mich Doktor Gordon in ein kahles Zimmer auf der Rückseite des Hauses führte, sah ich, daß die Fenster in diesem Trakt tatsächlich vergittert waren und daß die Zimmertür und die Tür des Wandschranks und die Schubladen der Kommode und alles, was sich öffnen und schließen ließ, mit Schlüssellöchern versehen war, so daß man es verschließen konnte. Ich legte mich auf das Bett.
Die schielende Krankenschwester kam zurück. Sie band mir die Armbanduhr ab und ließ sie in ihre Tasche gleiten. Dann begann sie, mir die Klammern aus dem Haar zu ziehen.
Doktor Gordon schloß eine Abstellkammer auf, zog einen Rolltisch hervor, auf dem eine Maschine stand, und schob ihn hinter das Kopfende meines Bettes. Die Krankenschwester begann, mir die Schläfen mit einem übelriechenden Fett einzureiben.
Als sie sich über mich beugte, um die der Wand zugewendete Seite meines Kopfes einzufetten, schob sich ihre dicke Brust wie eine Wolke oder ein Kissen über mein Gesicht. Ein undeutlicher medizinischer Gestank ging von ihrer Haut aus.
»Nur keine Angst«, grinste die Krankenschwester zu mir herunter. »Beim ersten Mal ist jeder zu Tode erschrocken.«
Ich versuchte zu lächeln, aber mein Haut war steif geworden, wie Pergament.
Doktor Gordon befestigte zwei Metallplatten an beiden Seiten meines Kopfes. Mit einem Band, das sich mir in die Stirn einschnitt, schnallte er sie fest und gab mir einen Draht zu beißen.
Ich schloß die Augen.
Es trat eine kurze Stille ein, wie ein Atemanhalten.
Dann kam etwas über mich und packte und schüttelte mich, als
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