Die Glasglocke (German Edition)
schon vertan hatte und daß meine Mutter wahrscheinlich nach Hause kommen und mich finden würde, bevor es mit mir zu Ende war.
Deshalb verpflasterte ich den Schnitt, packte meine Rasierklingen wieder ein und nahm den Bus um halb zwölf nach Boston.
»Tut mir leid, Kindchen, zum Deer-Island-Gefängnis fährt keine U-Bahn, das liegt auf einer Insel.«
»Nein, liegt es nicht. Früher lag es auf einer Insel, aber sie habenSchutt ins Wasser gekippt, und jetzt ist sie mit dem Festland verbunden.«
»Eine U-Bahn fährt da jedenfalls nicht hin.«
»Ich muß aber hin.«
»He«, der dicke Mann hinter dem Fahrkartenschalter spähte durch das Gitter zu mir hinaus, »nun wein doch nicht. Wen hast du denn da, Kleines, Verwandtschaft?«
Menschen drängten durch die künstlich erleuchtete Dunkelheit an mir vorüber und rempelten mich an, hasteten den Zügen nach, die aus dem Gedärm der Tunnelröhren unter dem Scollay Square hervorpolterten und wieder darin verschwanden. Ich spürte, wie die Tränen aus den fest verschraubten Ausgußöffnungen meiner Augen hervorzuspritzen begannen.
»Mein Vater ist dort.«
Der Mann sah auf einem Plan an der Wand seines Schalters nach. »Ich sag dir, wie du es machst. Du nimmst einen Zug auf dem Gleis da drüben und steigst bei Orient Heights aus, dann nimmst du einen Bus, auf dem The Point steht.« Er strahlte mich an. »Der fährt dich direkt bis vor das Gefängnistor.«
»He, Sie!« Ein junger Bursche in einer blauen Uniform winkte mir aus der Hütte zu.
Ich winkte zurück und ging weiter.
»He, Sie!«
Ich blieb stehen und ging langsam auf die Hütte zu, die wie ein kreisrundes Wohnzimmer auf dem nackten Sand stand.
»He, Sie können hier nicht weitergehen. Das ist Gefängniseigentum, betreten verboten.«
»Ich dachte, am Strand könnte man immer entlanggehen«, sagte ich. »Solange man sich unterhalb der Gezeitenlinie hält.«
Der Bursche überlegte einen Moment.
Dann sagte er: »Nicht an diesem Strand.«
Er hatte ein freundliches, aufgewecktes Gesicht.
»Sie haben es nett hier«, sagte ich. »Es ist wie ein kleines Haus.«
Er sah sich nach dem Zimmerchen mit dem geflochtenen Teppich und den Chintzvorhängen um. Er lächelte.
»Wir haben sogar eine Kaffeekanne.«
»Ich habe früher hier in der Nähe gewohnt.«
»Tatsächlich? Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«
Ich sah über den Strand nach dem Parkplatz und dem Gittertor und der schmalen, auf beiden Seiten vom Ozean bespülten Straße dahinter, die zu der einstigen Insel führte.
Die roten Backsteinbauten des Gefängnisses machten einen freundlichen Eindruck, wie die Gebäude eines Colleges am Meer. Links auf einem grünen Rasenhügel erkannte ich kleine weiße Punkte und etwas größere rosa Punkte, die sich bewegten. Ich fragte den Wächter, was das sei, und er sagte: »Das sind die Schweine und die Hühner.«
Ich dachte, wenn ich vernünftig gewesen und in dieser alten Stadt wohnen geblieben wäre, dann hätte ich diesen Gefängniswärter ohne weiteres in der Schule kennenlernen und später heiraten können und hätte jetzt einen Schwarm Kinder. Es wäre schön, mit einem Schwarm kleiner Kinder und Schweinen und Hühnern am Meer zu wohnen, »Waschkleider« zu tragen, wie meine Großmutter sie nannte, und in irgendeiner Küche mit hellem Linoleumboden zu sitzen und becherweise Kaffee zu trinken.
»Wie kommt man in dieses Gefängnis?«
»Man braucht eine Genehmigung.«
»Nein, ich meine: was muß man tun, damit man eingesperrt wird?«
»Ach so«, der Wächter lachte, »man klaut einen Wagen, man raubt ein Geschäft aus.«
»Haben Sie auch Mörder hier?«
»Nein. Mörder kommen in eine große staatliche Anstalt.«
»Und wer ist sonst noch hier?«
»Na, in den ersten Wintertagen bekommen wir immer die alten Penner aus Boston. Die wuchten einen Stein durch eine Fensterscheibe, lassen sich schnappen und müssen dann den Winter über nicht im Kalten sitzen, haben Fernsehen, reichlich zu essen und am Wochenende Basketball.«
»Ist doch nett.«
»Wem's gefällt«, sagte der Wächter.
Ich verabschiedete mich und ging weiter. Nur einmal sah ich mich noch um. Der Wächter stand immer noch im Eingang seines Wachhäuschens, und als ich mich umdrehte, hob er zum Gruß den Arm.
Der Stamm, auf dem ich saß, war bleischwer und roch nach Teer. Unter dem dickleibigen grauen Zylinder des Wasserturms auf seinem Feldherrenhügel schwenkte die Sandbank ins Meer hinaus. Bei Flut lag sie ganz unter Wasser.
Ich konnte mich
Weitere Kostenlose Bücher