Die Glasglocke (German Edition)
Willard.
»Konnten Sie mir bitte sagen, wie ich zur U-Bahn komme?« fragte ich den Matrosen laut.
»Hä?«
»Zur U-Bahn nach Deer Island, wo das Gefängnis ist?«
Für den Fall, daß Mrs. Willard zu uns herüberkam, mußte ich so tun, als fragte ich den Matrosen nach dem Weg und als würde ich ihn gar nicht kennen.
»Nimm deine Hand da weg«, murmelte ich.
»He, Elly, was ist denn?«
Die Frau kam näher und ging ohne einen Blick oder ein Nicken vorüber, und natürlich war es nicht Mrs. Willard. Mrs. Willard war in ihrem Ferienhaus in den Adirondacks.
Ich warf dem Rücken der Frau einen rachsüchtigen Blick nach.
»He, Elly …«
»Ich dachte, es wäre jemand, den ich kenne«, sagte ich. »Eine von diesen verfluchten Frauen aus dem Waisenhaus in Chicago.«
Der Matrose legte wieder seinen Arm um mich.
»Soll das heißen, du hast keine Mam und keinen Dad, Elly?«
»Nein.« Ich ließ eine anscheinend bereithängende Träne laufen. Sie hinterließ eine schmale, heiße Spur auf meiner Wange.
»He, Elly, wein doch nicht. Diese Frau, war sie gemein zu dir?«
»Sie war … sie war schrecklich!«
Plötzlich liefen mir die Tränen über die Wangen, und während der Matrose mich hielt und sie im Schutz einer Ulme mit einem großen, sauberen, weißen Leinentaschentuch abtupfte, dachte ich, was für eine schreckliche Frau die Dame in dem braunen Kostüm gewesen war und daß sie, ob sie es wußte oder nicht, verantwortlich dafür war, daß ich hier die falsche Richtung und dort den falschen Weg einschlug, verantwortlich auch für alles Schlimme, das nachher geschah.
»Nun, Esther, wie fühlen Sie sich heute?«
Doktor Gordon ließ einen schlanken silbernen Stift, der aussah wie ein Geschoß, wippen.
»Genauso.«
»Genauso?« Er zog die Augenbrauen hoch, als würde er es nicht glauben.
Deshalb erzählte ich ihm alles noch einmal, in dem gleichen schleppenden, ausdruckslosen Ton, nur etwas gereizter, weil er so begriffsstutzig zu sein schien und nicht verstehen wollte, daß ich seit vierzehn Tagen nicht geschlafen hatte und nicht lesen und nicht schreiben und auch nicht gut schlucken konnte.
Doktor Gordon schien nicht beeindruckt.
Ich wühlte in meiner Handtasche und fand die Schnipsel meines Briefes an Doreen. Ich nahm sie heraus und ließ sie auf Doktor Gordons makellos grüne Schreibunterlage rieseln. Da lagen sie nun wie die welken Blütenblätter eines Gänseblümchens auf einer Sommerwiese.
»Was«, fragte ich, »halten Sie hiervon?«
Ich hatte erwartet, Doktor Gordon würde sofort erkennen, wie schlecht die Handschrift war, aber er sagte nur: »Ich glaube, ich sollte mal mit Ihrer Mutter sprechen. Hätten Sie etwas dagegen?«
»Nein.« Aber die Vorstellung, daß Doktor Gordon mit meiner Mutter sprach, gefiel mir überhaupt nicht. Vielleicht würde er ihr sagen, ich sollte eingesperrt werden. Ich sammelte sämtliche Fetzen meines Briefes an Doreen wieder ein, damit Doktor Gordon sie nicht zusammensetzen und herausfinden konnte, daß ich vorhatte, wegzulaufen, und verließ wortlos seine Praxis.
Ich beobachtete, wie meine Mutter immer kleiner und kleiner wurde, bis sie im Eingang des Hauses, in dem Doktor Gordon seine Praxis hatte, verschwand. Dann beobachtete ich, wie sie immer größer wurde, während sie wieder auf den Wagen zukam.
»Und?« Ich sah, daß sie geweint hatte.
Meine Mutter sah mich nicht an. Sie startete den Wagen.
Erst als wir im kühlen Tiefseeschatten der Ulmen dahinglitten, sagte sie: »Doktor Gordon meint, dein Zustand habe sich überhaupt nicht gebessert. Er meint, eine Schockbehandlung in seiner Privatklinik in Walton werde dir vielleicht guttun.«
Eine prickelnde Neugier packte mich, als hätte ich gerade eine furchtbare Schlagzeile über jemand anderen gelesen.
»Meint er, ich soll dort leben ?«
»Nein«, sagte meine Mutter, und ihr Kinn bebte.
Ich war mir sicher, daß sie log.
»Sag die Wahrheit«, fuhr ich sie an, »sonst rede ich kein Wort mehr mit dir.«
»Sage ich dir nicht immer die Wahrheit?« erwiderte meine Mutter und brach in Tränen aus.
SELBSTMÖRDER VON SIMS
IM SECHSTEN STOCK GERETTET
Nach zwei Stunden auf einem schmalen Sims des sechsten Stockwerks über einem betonierten Parkplatz und einer Menschenmenge ließ sich Mr. George Pollucci von Sgt. Will Kilmartin vom Polizeirevier Charles Street durch ein nahe gelegenes Fenster in Sicherheit bringen.
Ich knackte eine Erdnuß aus der Zehn-Cent-Tüte, die ich gekauft hatte, um die Tauben zu füttern, und aß
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