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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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sie. Sie schmeckte schal, wie ein Stück alter Baumrinde.
    Ich hielt mir die Zeitung dicht vor die Augen, um George Polluccis Gesicht besser erkennen zu können, angestrahlt wie ein Dreiviertelmond vor einem undeutlichen Hintergrund aus Ziegeln und schwarzem Himmel. Es kam mir vor, als hätte er mir etwas Wichtiges zu sagen und als würde es, was immer es sein mochte, vielleicht in seinem Gesicht geschrieben stehen.
    Aber die schmuddeligen Runzeln in George Polluccis Zügen verschwammen bei näherem Hinsehen und lösten sich in ein regelmäßiges Muster aus dunklen und hellen und mittelgrauen Punkten auf.
    In dem tuscheschwarzen Zeitungsabsatz stand nicht, warum Mr. Pollucci auf das Sims gestiegen war, und auch nicht, was Sgt. Kilmartin mit ihm getan hatte, nachdem er ihn schließlich durch das Fenster nach drinnen gelotst hatte.
    Das Problem beim Springen war, falls man nicht die richtige Anzahl Stockwerke nahm, blieb man womöglich am Leben, wenn man unten ankam. Aber sechs Stockwerke, dachte ich, müßten eine sichere Höhe sein.
    Ich faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie zwischen die Planken der Parkbank. Es war eine von den Zeitungen, die meine Mutter Revolverblätter nannte, voller Morde, Selbstmorde, Schlägereien und Raubüberfälle aus der Stadt, und fast auf jeder Seite sah man eine halbnackte Dame, deren Brüste aus dem Kleid hervorquollen oder deren Beine so gestellt waren, daß man bis zu den Säumen ihrer Strümpfe hinauf sehen konnte.
    Ich hatte keine Ahnung, warum ich noch nie eine von diesen Zeitungen gekauft hatte. Sie waren das einzige, was ich lesen konnte. Die kurzen Absätze zwischen den Bildern endeten, bevor die Buchstaben verrücktspielen und herumwackeln konnten. Zu Hause bekam ich immer nur den Christian Science Monitor zu sehen, der täglich außer sonntags pünktlich um fünf Uhr auf der Türschwelle erschien und Selbstmorde, Sexualverbrechen und Flugzeugabstürze behandelte, als gäbe es sie nicht.
    Ein großer weißer Schwan, vollbesetzt mit kleinen Kindern, näherte sich meiner Bank, umrundete dann ein buschiges, von Enten bevölkertes Inselchen und paddelte unter dem dunklen Bogen der Brücke zurück. Alles, was ich ansah, schien zu leuchten und war extrem winzig.
    Wie durch das Schlüsselloch einer Tür, die ich nicht öffnen konnte, sah ich mich und meinen jüngeren Bruder, sehr klein, Luftballons mit Kaninchenohren in den Händen, ein Schwanenboot besteigen und um einen Platz an der Außenseite über dem mit Erdnußschalen bestreuten Wasser kämpfen. In meinem Mund breitete sich ein Geschmack von Sauberkeit und Pfefferminz aus. Wenn wir beim Zahnarzt brav gewesen waren, spendierte uns meine Mutter jedesmal eine Fahrt mit dem Schwanenboot.
    Ich wanderte im Botanischen Garten umher – über die Brücke, an den blaugrünen Denkmälern und dem Blumenbeet in Form der amerikanischen Flagge und am Eingang vorbei, wo man sich in einer orange-weiß gestreiften Zeltbude für fünfundzwanzig Cent fotografieren lassen konnte – und las die Namen an den Bäumen.
    Mein Lieblingsbaum war der Trauernde Gelehrtenbaum. Ich war mir sicher, daß er aus Japan kam. In Japan verstanden sie sich auf geistige Dinge.
    Da schlitzten sie sich den Bauch auf, wenn etwas schieflief.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie dabei zu Werke gingen. Sie benötigten ein sehr scharfes Messer. Nein, wahrscheinlich zwei sehr scharfe Messer. Dann ließen sie sich mit übergeschlagenen Beinen nieder, ein Messer in jeder Hand. Sie nahmen die Arme über Kreuz und setzten auf jede Seite des Bauches eine Messerspitze. Sie mußten nackt sein, sonst würden die Messer in ihren Kleidern hängenbleiben.
    Mit einem Ruck, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnten, mußten sie dann zustechen und sich die Messer durch den Leib ziehen, eines oben herum, das andere unten herum, so daß ein vollständiger Kreis zustande kam. Dann löste sich ihre Bauchwand wie ein Teller, ihr Inneres fiel nach draußen, und sie starben.
    Man brauchte viel Mut, um so zu sterben.
    Mein Problem war, ich konnte den Anblick von Blut nicht ertragen.
    Mir fiel ein, daß ich die Nacht über im Park bleiben könnte.
    Am nächsten Morgen sollte Dodo Conway meine Mutter und mich nach Walton fahren, und wenn ich weglaufen wollte, ehe es zu spät war, dann jetzt. Ich sah in meiner Handtasche nach und kramte einen Dollarschein und neunundsiebzig Cent in Zehnern, Fünfern und Pennies hervor.
    Ich hatte keine Ahnung, wieviel es bis Chicago kosten

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