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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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Handtasche zwischen den Papierschnitzeln, dem Etui, den Erdnußschalen, den Münzen und der blauen Schachtel mit neunzehn Rasierklingen herum, bis ich den Schnappschuß fand, den ich an diesem Nachmittag in der orange-weiß gestreiften Zeltbude hatte machen lassen.
    Ich hielt ihn neben das verwischte Foto des toten Mädchens. Er paßte, Mund zu Mund, Nase zu Nase. Der einzige Unterschied waren die Augen. Die Augen auf dem Schnappschuß waren offen und die auf dem Zeitungsfoto waren geschlossen. Aber ich wußte, wenn man die Augen des toten Mädchens mit den Daumen aufsperren würde, würden sie mich mit dem gleichen toten, schwarzen, leeren Ausdruck ansehen wie die Augen auf dem Schnappschuß.
    Ich stopfte das Bild in meine Handtasche zurück.
    »Jetzt bleibe ich auf dieser Parkbank sitzen, bis auf der Uhr an dem Haus da drüben fünf Minuten vergangen sind«, sagte ich mir, »und dann gehe ich irgendwohin und tue es.«
    Ich rief den kleinen Chor der inneren Stimmen zusammen.
    Interessiert Ihre Arbeit Sie eigentlich nicht, Esther?
    Weißt du, Esther, du hast wirklich das Zeug zu einer Neurotikerin.
    So kommen Sie niemals weiter, so kommen Sie niemals weiter, so kommen Sie niemals weiter.
    An einem heißen Sommerabend hatte ich einmal einen stark behaarten Jurastudenten aus Yale, der aussah wie ein Gorilla, eine Stunde lang geküßt, weil er mir leid tat, so häßlich war er. Alsich fertig war, sagte er: »Jetzt weiß ich, was mit dir los ist, Baby. Mit vierzig bist du prüde.«
    »Artifiziell!« hatte mein Professor für kreatives Schreiben am College unter eine Erzählung von mir mit dem Titel »Das tolle Wochenende« gekritzelt.
    Ich hatte gar nicht gewußt, was artifiziell bedeutet, und hatte im Wörterbuch nachgeschlagen.
    Artifiziell, gekünstelt, künstlich, unecht.
    So kommen Sie niemals weiter.
    Ich hatte seit einundzwanzig Nächten nicht geschlafen.
    Es kam mir vor, als müsse Schatten das Schönste auf der Welt sein, die Millionen beweglicher Formen und Sackgassen des Schattens, Schatten fand sich in Kommodenschubladen, Wandschränken, Koffern, und Schatten fand sich unter Häusern, Bäumen, Steinen, auch fand sich Schatten ganz hinten in den Augen und im Lächeln der Leute, und Schatten, Meilen und Meilen von Schatten, fand sich auf der Nachtseite der Erde.
    Ich betrachtete die beiden fleischfarbenen Heftpflaster, die sich auf meiner rechten Wade kreuzten.
    An diesem Morgen hatte ich einen Anfang gemacht.
    Ich hatte mich im Badezimmer eingeschlossen, hatte warmes Wasser in die Wanne laufen lassen und eine Rasierklinge herausgenommen.
    Auf die Frage, wie er sterben wolle, hat mal irgendein alter römischer Philosoph geantwortet, er würde sich in einem warmen Bad die Adern öffnen. Ich dachte, es würde einfach sein – in der Wanne liegen und zusehen, wie die Röte aus meinen Handgelenken aufblüht, Schwall um Schwall in dem klaren Wasser, bis ich unter mohnbunter Oberfläche in den Schlaf sank.
    Aber als es so weit war, sah die Haut an meinem Handgelenk so weiß und wehrlos aus, daß ich es nicht fertigbrachte. Es kam mir vor, als wäre das, was ich töten wollte, nicht in dieser Haut oder in diesem schwachen blauen Puls, der unter meinem Daumenpochte, sondern woanders, tiefer, versteckter und viel schwerer zu erreichen.
    Zwei Bewegungen würden nötig sein. Zuerst das eine Handgelenk, dann das andere. Drei Bewegungen, wenn man das Wechseln der Rasierklinge von einer Hand in die andere mitzählte. Dann würde ich in die Wanne steigen und mich hinlegen.
    Ich trat vor das Arzneischränkchen. Wenn ich in den Spiegel sah, während ich es tat, würde es so sein, als sähe ich jemand anderem zu, wie in einem Buch oder einem Theaterstück.
    Aber die Person im Spiegel war gelähmt und zu dumm, irgend etwas zu tun.
    Dann fiel mir ein, ich konnte zur Übung etwas Blut vergießen, also setzte ich mich auf den Rand der Wanne und legte meinen rechten Fußknöchel auf das linke Knie. Dann hob ich die rechte Hand, in der ich die Rasierklinge hielt, und ließ sie mit ihrem eigenen Gewicht wie eine Guillotine auf die Wade fallen.
    Zuerst spürte ich nichts. Dann eine kurze, tiefe Erregung, und schon sickerte unter der Kante des Schnitts ein leuchtend roter Saum hervor. Das Blut sammelte sich, dunkel wie eine Frucht, und floß am Fußknöchel abwärts in die Schale meines Lackschuhs.
    Ich überlegte, ob ich nun in die Wanne steigen sollte, aber mir fiel ein, daß ich durch mein Trödeln den größeren Teil des Vormittags

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