Die Glasglocke (German Edition)
loben, daß ich Miss Morris Mut gemacht hatte, und wahrscheinlich würde ich Einkaufs-und Kinoerlaubnis für die Stadt bekommen, und meine Flucht wäre gesichert.
Aber während all der Stunden, die ich bei ihr gewacht hatte, hatte Miss Norris kein einziges Wort gesagt.
»Und wohin ziehen Sie?« fragte ich sie jetzt.
Die Schwester berührte Miss Norris am Ellbogen, und Miss Norris setzte sich in Bewegung wie eine Puppe auf Rädern.
»Sie zieht nach Wymark«, erzählte mir meine Schwester leise. »Mit Miss Norris geht es leider nicht aufwärts wie mit Ihnen.«
Ich beobachtete, wie Miss Norris erst einen und dann den anderen Fuß über den unsichtbaren Zauntritt hob, der die Eingangstür versperrte.
»Ich habe eine Überraschung für Sie«, sagte die Schwester, während sie mich in einem sonnigen Zimmer im vorderen Teil des Hauses unterbrachte, von dem aus man den grünen Golfplatz sehen konnte. »Jemand, den Sie kennen, ist gerade heute gekommen.«
»Jemand, den ich kenne?«
Die Schwester lachte. »Sehen Sie mich nicht so an. Es ist kein Polizist.« Als ich nichts sagte, fügte sie hinzu: »Sie sagt, sie ist eine alte Freundin von Ihnen. Sie wohnt nebenan. Warum besuchen Sie sie nicht mal?«
Ich glaubte, die Schwester mache einen Witz, und wenn ich an die Tür klopfte, würde ich keine Antwort hören, ich würde aber trotzdem eintreten und Miss Norris finden, sie würde in ihrer dunkelroten Jacke mit dem Eichhörnchenkragen auf dem Bett liegen, und ihr Mund würde aus dem stillen Gefäß ihres Körpers hervorblühen wie eine Rosenknospe.
Trotzdem ging ich hinaus und klopfte an der Tür nebenan.
»Herein!« rief eine fröhliche Stimme.
Ich öffnete die Tür einen Spaltweit und spähte in das Zimmer. Das große Mädchen in Reithosen, das am Fenster saß und selbst wie ein Pferd aussah, blickte mit breitem Lächeln auf.
»Esther!« Sie klang atemlos, als wäre sie weit gerannt und eben erst stehengeblieben. »Wie schön, dich zu sehen. Ich habe schon gehört, daß du hier bist.«
»Joan?« sagte ich zögernd und dann verwirrt und ungläubig: »Joan!«
Joan strahlte und zeigte die großen, schimmernden, unverkennbaren Zähne.
»Ich bin's wirklich. Ich wußte, du würdest überrascht sein.«
Sechzehn
Joans Zimmer mit Wandschrank, Kommode, Tisch und Stuhl und der weißen Decke mit dem großen blauen C darauf war ein Spiegelbild meines eigenen. Mir kam der Gedanke, daß sich Joan, nachdem sie gehört hatte, wo ich war, unter falschem Vorwand, nur zum Spaß ein Zimmer in der Anstalt genommen hatte. Das würde auch erklären, warum sie der Schwester gesagt hatte, ich sei ihre Freundin. Ich kannte Joan nur aus kühler Distanz.
»Wie bist du hierhergekommen?« Ich machte es mir auf Joans Bett gemütlich.
»Ich habe von dir gelesen.«
»Wie bitte?«
»Ich habe von dir gelesen und bin weggelaufen.«
»Wie meinst du das?« fragte ich ruhig.
»Na ja«, Joan lehnte sich in den chintzgeblümten Anstaltssessel zurück, »ich hatte im Sommer einen Ferienjob, arbeitete für den Vorsteher irgendeiner Bruderschaft, etwas Ähnliches wiedie Freimaurer, weißt du, aber es waren nicht die Freimaurer, und es ging mir furchtbar schlecht. Ich hatte entzündete Füße, konnte kaum laufen – an den letzten Tagen mußte ich zur Arbeit Gummistiefel statt Schuhe anziehen, und du kannst dir vorstellen, wie einem das auf die Stimmung schlägt …«
Ich dachte, entweder muß Joan verrückt sein – zur Arbeit Gummistiefel anzuziehen –, oder sie will herausfinden, wie verrückt ich bin, das alles zu glauben. Entzündete Füße hatten außerdem nur alte Leute. Ich beschloß, so zu tun, als würde ich ihr das Verrücktsein abnehmen.
»Ich fühle mich auch immer mies ohne Schuhe«, sagte ich mit einem vieldeutigen Lächeln. »Haben dir die Füße sehr weh getan?«
»Grauenhaft. Und mein Chef – er hatte sich gerade von seiner Frau getrennt, konnte sich aber nicht ohne weiteres scheiden lassen, sonst hätte er Ärger mit seiner Bruderschaft bekommen –, mein Chef rief mich andauernd mit dem Summer zu sich, und jedesmal wenn ich zu ihm ging, taten mir die Füße höllisch weh, aber kaum saß ich wieder an meinem Schreibtisch, summte der Summer schon wieder, und er wollte etwas anderes loswerden …«
»Warum hast du nicht gekündigt?«
»Hab ich ja, mehr oder weniger. Ich habe mich krank gemeldet. Ich ging nicht mehr vor die Tür. Ich habe mich mit niemandem verabredet. Das Telefon habe ich in eine Schublade gestellt und nie
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