Die Glasglocke (German Edition)
Füße immer genau in die Mitte der Zentifolien gestellt, die sich durch das Muster des Teppichs rankten. Sie wartete einen Moment und hob dann ihre Füße, einen nach dem anderen, über die Türschwelle ins Eßzimmer, als würde sie über einen unsichtbaren, schienbeinhohen Zauntritt steigen.
Sie setzte sich an einen der runden, leinengedeckten Tische und entfaltete eine Serviette auf ihrem Schoß.
»Abendbrot gibt's erst in einer Stunde«, rief die Köchin aus der Küche.
Aber Miss Norris antwortete nicht. Sie blickte einfach höflich vor sich hin.
Ich setzte mich ihr gegenüber auf einen Stuhl und entfaltete eine Serviette. Wir sprachen nicht, saßen vielmehr in vertrautem schwesterlichem Schweigen einfach da, bis der Gong zum Abendessen im Flur ertönte.
»Legen Sie sich flach hin«, sagte die Schwester. »Ich gebe Ihnen noch eine Spritze.«
Ich drehte mich auf den Bauch, hob den Rock und zog die Hose meines Seidenpyjamas herunter.
»Was haben Sie denn da drunter noch alles an?«
»Den Pyjama. So muß ich ihn nicht die ganze Zeit an-und ausziehen.«
Die Schwester schnalzte leise. Dann sagte sie: »Welche Seite?« Es war ein alter Scherz.
Ich hob den Kopf und sah nach hinten auf meinen nackten Hintern. Beide Backen waren von den bisherigen Spritzen rot und grün und blau. Die linke sah dunkler aus als die rechte.
»Die rechte.«
»Zu Befehl.« Die Schwester stach die Nadel hinein, und ich zuckte und kostete den kleinen Schmerz. Dreimal täglich gaben mir die Schwestern eine Spritze, und eine Stunde nachher gaben sie mir jedesmal einen Becher zuckrigen Fruchtsaft und sahen zu, wie ich ihn trank.
»Du Glückliche«, sagte Valerie. »Du bist auf Insulin.«
»Es tut sich nichts.«
»Ach, das kommt noch. Ich hab das auch bekommen. Sag mir, wenn du eine Reaktion bekommst.«
Aber anscheinend bekam ich nie eine Reaktion. Ich wurde bloß immer dicker. Ich füllte schon die neuen, viel zu großen Kleider, die meine Mutter gekauft hatte, und wenn ich an meinem runden Bauch und den breiten Hüften herabsah, dachte ich, wie gut, daß mich Mrs. Guinea so nicht sieht, ich sah nämlich aus, als würde ich ein Kind bekommen.
»Hast du meine Narben gesehen?«
Valerie schob ihren schwarzen Pony beiseite und zeigte mir zwei bleiche Stellen auf beiden Seiten ihrer Stirn, die aussahen, als wären ihr dort irgendwann einmal Hörner gewachsen und dann abgeschnitten worden.
Wir gingen zu zweit, nur begleitet von der Physiotherapeutin, im Park der Anstalt spazieren. Inzwischen bekam ich immer öfter Erlaubnis, spazierenzugehen. Miss Norris durfte nie nach draußen.
Valerie sagte, Miss Norris gehöre eigentlich nicht nach Caplan,sondern in ein Gebäude namens Wymark für Leute, denen es noch schlechter gehe.
»Weißt du, woher diese Narben stammen?« fragte Valerie weiter.
»Nein. Woher?«
»Ich hatte eine Lobotomie.«
Ich sah Valerie ehrfürchtig an, und zum erstenmal fiel mir ihre unerschütterliche, marmorne Gelassenheit auf. »Wie fühlst du dich?«
»Prima. Ich bin nicht mehr wütend. Früher war ich immer wütend. Früher war ich in Wymark, jetzt bin ich in Caplan. Ich kann jetzt in die Stadt gehen, Einkaufen oder ins Kino – zusammen mit einer Schwester.«
»Was hast du vor, wenn du wieder draußen bist?«
»Oh, ich gehe nicht weg«, lachte Valerie. »Mir gefällt es hier.«
»Umzugstag!«
»Warum denn umziehen?«
Die Schwester ging munter herum, öffnete und schloß meine Schubladen, räumte den Wandschrank aus und packte meine Sachen in den schwarzen Handkoffer.
Ich dachte, nun müßte ich doch nach Wymark umziehen.
»Sie ziehen nur auf die Vorderseite des Hauses«, sagte die Schwester fröhlich. »Es wird Ihnen gefallen. Da ist viel mehr Sonne.«
Als wir in den Flur hinaustraten, sah ich, daß auch Miss Norris umzog. Eine Schwester, jung und munter wie meine, stand in der Tür zu Miss Norris' Zimmer und half ihr in eine dunkelrote Jacke mit einem abgetragenen Eichhörnchenkragen.
Stundenlang hatte ich an Miss Norris' Bett gewacht, hatte die Ablenkungen von Beschäftigungstherapie, Spazierengehen, Federballspiel und selbst die wöchentlichen Filme, die ich so sehr genoß und zu denen Miss Morris nie ging, verweigert und statt dessen über dem kleinen, blassen, sprachlosen Kreis ihrer Lippen gegrübelt.
Ich stellte mir vor, wie aufregend es wäre, wenn sie den Mund aufmachte und etwas sagte, und wie ich dann in den Flur stürmen und es den Schwestern verkünden würde. Sie würden mich dafür
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