Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
und Sandro spürte einen alten Bekannten aus vergangenen Tagen: das Gefühl, gedemütigt zu werden. Er entschloss sich, nichts zu erwidern. Aber es war ihm von diesem Augenblick an klar, dass die Wege von Luis und ihm sich trennen würden, und seltsamerweise spürte er plötzlich eine große Erleichterung, so als verlasse er einen stickigen Raum.
Das Glöckchen Creszenzios unterbrach das Gemurmel der Teilnehmer, und die Sitzung begann.
Gleich zu Beginn gerieten Luis und Matthias in heftigen Streit über die Residenzpflicht für Bischöfe. Sie beschossen sich mit Argumenten und Gegenargumenten, rangen um Formeln, um Redewendungen und Lehrtexte. Alle Teilnehmer außer Sandro, Innocento und Villefranche beteiligten sich an der Debatte. Gerade, als die Positionen sich zu verhärten begannen und kein Vor und Zurück mehr möglich schien, einigte man sich auf einen Kompromiss. Matthias und die Reformer setzten durch, dass die Bischöfe künftig gezwungen wären, in ihren Diözesen zu bleiben, und dass der Papst nicht länger das Recht hätte, sie von dort abzuberufen. Außerdem erwirkten sie von Luis das Zugeständnis, dass Bischöfe künftig nur einem Bistum vorstehen dürften und nicht wie bisher mehreren. Damit sollte das Sammeln von Würden – und Einkünften – unterbunden sowie Ämterkauf und Favoritenwirtschaft eingeschränkt werden. Luis wiederum erhielt die Zusage, dass der Papst künftig befugt wäre, Gesandte in die Diözesen zu entsenden, die dort das Wirken der Bischöfe überwachen und bei Verfehlungen ahnden dürften. Mit diesem Kompromiss waren die Stellung Roms und des Papstes einerseits geschwächt und andererseits gestärkt worden.
Weitere strittige Themen wurden diskutiert, doch jedes Mal fand sich nach gewisser Zeit ein Mittelweg oder eine Formulierung, die sowohl Luis als auch Matthias akzeptierten. Die Konservativen unter den Teilnehmern lehnten die Kompromisse natürlich ab, das war keine Überraschung, doch sie wären in der Minderheit gewesen, wenn nicht plötzlich Villefranche doch noch das Wort ergriffen hätte: »Ich bedaure«, sagte er, »aber ich werde allen Formeln, die heute ausgehandelt wurden, meine Zustimmung verweigern.«
Tumult brach aus, und alle redeten durcheinander. Rowlands hielt Villefranche vor, übergeschnappt zu sein, Villefranche verteidigte sich; die Konservativen applaudierten. Creszenzio läutete vergeblich mit dem Glöckchen.
Innocento war der Erste, der aufstand und aus dem Raum ging. Die Sitzung war ohne Ergebnis geblieben. Villefranche – und damit die meisten französischen Delegierten – würden einer umfangreichen Kirchenreform eine Absage erteilen, ohne die es wiederum keine Annäherung zu den Protestanten geben würde. Die Vereinigung der Gläubigen, eben noch greifbar nahe, war plötzlich wieder in weite Ferne gerückt. Man würde weiterhin beraten, diskutieren, streiten. Das Konzil würde sich hinziehen. Wenn die Meinungsführer sich nicht einigen konnten, würden die Theologen und Kanoniker sich hoffnungslos in Details verlieren. Nach und nach verließen Rowlands, Creszenzio, Matthias und die anderen den Saal. Nur Luis und Villefranche blieben zurück.
Die Prälaten fuhren in ihren Kutschen davon und hinterließen Wolken aus Staubkörnchen, die in der Sonne tanzten. Sandro tauchte in diese Wolke ein. Innocento bot ihm an, ihn auf seinem Pferd mitzunehmen, und Sandro war kurz davor, das Angebot anzunehmen, aber dann sah er, wie Matthias, dessen Pferd lahmte und im Stall zurückgelassen werden musste, allein und zu Fuß den Rückweg antrat. Die Worte Antonias fielen ihm wieder ein: Aussprache, Versöhnung. War dieser Streit zwischen zwei Halbbrüdern nicht tatsächlich längst albern geworden? Matthias hatte üble Dinge zu Elisa gesagt, aber Elisa hatte ihm zuvor übel mitgespielt. Matthias hatte sich Sandro gegenüber niederträchtig verhalten, doch er, Sandro, hatte ihn daraufhin beinahe umgebracht, was auch nicht gerade von hoher Moral zeugte. Sie alle hatten sich miserabel benommen, die ganze kaputte Familie aus Hagens und Carissimis, und heute waren sie zwei Männer, die vor Jahren von der gleichen Krankheit befallen worden waren und noch immer an deren Folgen litten. Gab es denn wirklich keine Sprache, keine Verständigung mehr zwischen ihnen, obwohl sie doch im Grunde genommen beide krank waren? Auf einem einzigen Spaziergang alles auszuräumen, was sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, war unmöglich, aber deswegen erst gar keinen Anfang zu
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