Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
irgendetwas herum und spuckte es – nicht gerade vor Sandros Füße, aber doch nicht weit davon entfernt – auf den Boden. Er hatte es jetzt mit zwei Mönchen zu tun, die ihm in seine Arbeit hineinredeten, und das störte ihn sichtlich, mehr noch, es demütigte ihn vermutlich so, wie Sandro soeben gedemütigt worden war.
Während Sandro sich auf den Weg zu seinem Amtsraum machte, ging ihm das durch den Kopf, was Matthias ihm enthüllt hatte. Es ist immer ein Schlag, wenn man erkennt, dass man nicht Herr seines Lebens ist, dass jemand dieses Leben steuert und man selbst nur eine Art Gefährt ist. Wo wäre Sandro jetzt, wenn Matthias Elisa nicht gezwungen hätte, ihn zu drängen, in ein Kloster zu gehen? Sandros Vater hatte gute Beziehungen in Rom, er hätte ihn nach wenigen Wochen, vielleicht zwei, drei Monaten, gegen Geld frei bekommen. So etwas kam jeden Tag vor. Man bestach einen Richter, einen Prätor, einen Kämmerer des Patrimoniums, stellte ein Gnadenersuchen und – nach einer eher symbolischen Frist – erhielt man, was man wünschte. Es hätte mehr als einen Weg zurück in die Freiheit gegeben. Sandro wäre kein Jesuit geworden, die letzten sieben Jahre wären völlig anders verlaufen. Er hätte sich weiterhin mit Beatrice getroffen. Seine Freunde wären noch heute seine Freunde. Elisa wäre noch heute seine Mutter.
Stattdessen war er von allem getrennt worden, von zwanzig Jahren Leben. An manchen Tagen erinnerte er sich nicht mehr an die Augenfarbe seiner Mutter, an die Art, wie sie die Haare trug, an die Klangfarbe des Lachens seiner Schwestern, an den Händedruck seines Vaters. Diese Dinge schwanden, lösten sich auf, verfälschten sich wie alle Erinnerungen. Und das tat weh.
Jetzt tat es besonders weh, denn er wusste, dass es nicht hätte sein müssen.
Gab es überhaupt noch irgendetwas, das Matthias ihm nicht genommen hatte?
Er verbot es sich, an Antonia zu denken.
»Verdammt«, fluchte er vor sich hin, laut genug, damit eine Wache ihm grinsend nachblickte.
Er war doch früher nicht so einer gewesen, der sich ständig selbst bemitleidet hatte. Nur in Matthias’ Nähe ließ er sich gehen. Wollte er, dass das so blieb? Wollte er auch diesen letzten Triumph Matthias überlassen, den Triumph, dass er sich selbst fertigmachte? War da nicht wenigstens so viel Stolz in ihm, dass er sich anstrengte – kämpfte, wie Matthias gefordert hatte? So dumm, so hilflos, so unbegabt, wie er sich selbst einredete, war er nicht. Kein Mensch war das.
Er atmete tief durch und hob den Kopf, als er um die letzte Ecke bog. Er ahnte, wen er gleich in seinem Raum vorfinden würde. Nicht dass er einen Namen gewusst hätte, aber es würde jemand mit kurzen, braunen Haaren sein.
Vor der Tür wartete Aaron. Er lehnte an der Wand, riss kleine Stücke aus einem Schmalzgebäck und stopfte sie sich in den Mund. Aarons Haare waren viel zu lang, als dass er der Zeuge hätte sein können. Sandro wollte ihn fragen, was er hier wolle, warum er ihn nicht mied wie sein Onkel, der Arzt; wollte ihm sagen, dass er besser dran wäre, wenn er wieder ginge. Als sie sich jedoch gegenüberstanden und einander ansahen, tat er nichts dergleichen. Der Trotz auf Aarons Gesicht ließ ihn vermuten, dass er gegen den Willen seines Onkels und seiner Eltern gekommen war.
»Hast du ihn hierhergebracht?«, fragte er.
Aaron nickte. »Er hat sich an mich gewandt, weil er wusste, dass ich Euch assistiere. Er ist in meinem Alter. Wir kennen uns, nicht sehr gut, aber ein wenig.«
»Erzähle mir von ihm.«
Fabrizio Schiacca war eines von siebzehn Kindern einer bitterarmen Trienter Familie. Seit er elf Jahre alt war, arbeitete er in einer Druckerei, in der er – in einer kleinen Nische, zusammen mit zwei anderen Gesellen – schlief und lebte. Man sah ihn selten. Er arbeitete von früh bis spät, manchmal bis in die Nacht hinein, denn der Meister war streng und durchtrieben, und da er der einzige Drucker Trients war, konnte er es sich leisten, erbärmlich schlecht zu bezahlen. Aaron kannte Fabrizio aus dem Armenhaus, in dem Aarons Mutter arbeitete. Vier von Fabrizios Geschwistern waren dort an Krankheiten gestorben, und Fabrizio war der Einzige aus der Familie gewesen, der sie vor ihrem Tod besucht hatte.
»Hast du ihm zu trinken gegeben?«, fragte Sandro.
»Ja.«
»Hole ihm bitte auch etwas zu essen.«
»Mein Gebäck wollte er nicht.«
»Schmalzgebäck ist nicht jedermanns Sache – auch wenn das für dich nur schwer zu verstehen ist.« Sandro
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