Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
zwei alte Franziskanerinnen verharrten wie zwei miteinander verwachsene Körper nebeneinander, wobei ihr Wispern durch den ganzen Kirchenraum hallte.
Sandro ließ sich auf dem kalten Stein nieder, das Licht der Genesis und der Apokalypse fiel auf seine Schultern, und die Erlebnisse des Vormittags klangen in ihm nach. Er faltete die Hände und schloss die Augen.
Sandros Andacht
Herr! Wieso hat Luis das getan? Und wieso hast du es zugelassen? Ihr beide, du und Luis, müsst doch wissen, dass ich mich nicht für eine solche Aufgabe eigne. Wieso hat Luis – wenn er die Untersuchung schon nicht selbst übernimmt – ausgerechnet mich empfohlen? Mit meiner Arbeit als Assistent ist er zufrieden, jedenfalls beanstandet er sie nicht. Aber er muss doch wissen, dass ich nicht mir nichts, dir nichts einen Mord aufklären kann. Der Fürstbischof beschreibt die Aufgabe als große Gelegenheit für mich, doch du weißt so gut wie ich, dass sie eine noch größere Gefahr darstellt. Was, wenn weitere Morde geschehen, die ich nicht verhindern kann? Oder im Gegenteil: Was, wenn ich erfolgreich bin und etwas herausfinde, das ich lieber nicht hätte herausfinden sollen? Heute Morgen war ich noch ein Mönch, jetzt bin ich ein Beauftragter des Heiligen Vaters, deines vornehmsten Dieners und Stellvertreters ...
Bei diesem Gedanken zuckte er innerlich zusammen. Er war der unmittelbare Beauftragte des Stellvertreters Gottes auf Erden! Das war ihm unerträglich! So viel Verantwortung, so viel Licht, war er nicht gewöhnt. Er war ein Assistent, und Assistenten bekamen immer nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit, ein bisschen Licht, das durch einen Spiegel auf sie fällt. Wenn Sandro in den letzten Jahren Verantwortung verspürt hatte, dann war es das Verantwortungsgefühl eines Junkers, dessen Marschall in eine Schlacht zieht. Bei dieser Aufgabe, im Windschatten eines großen Mannes wie Luis, fühlte er sich wohl.
Sein Blick fiel auf die monströsen, prachtvollen Kirchenfenster mit der Apokalypse. Abwechselnd dachte er an den gewaltsamen Tod von Salvatore Bertani, an seine Ernennung zum Visitator, das Zusammentreffen mit Matthias und …
Antonia. Ich sage den Namen immer wieder. Antonia. Sie passt eigentlich nicht in diese Andacht, Herr. Bertani, Matthias, der Papst: Sie alle lösen Angst in mir aus, auf die eine oder andere Weise. Antonias Name löst keine Angst aus. Mit ihr ist es etwas anderes: Als ich ihr heute Morgen begegnete, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, von dem ich nicht wusste, ob ich es mögen oder bekämpfen soll, ein Gefühl, wie man es nur hat, wenn man auf etwas Unbekanntes trifft.
In diesem Moment ließ sich jemand auf die Kniebank neben Sandro nieder, und als er zur Seite blickte, sah er Luis.
»Wie ist es?«, fragte Luis. »Gehen wir zu Bertanis Quartier und sehen uns dort um?«
3
Antonia hatte bisher noch nie eine Freundin gehabt. Sie liebte Dinge, für die andere Frauen kein Verständnis hatten, und wenn sie doch Verständnis hatten, wollten sie nicht darüber reden. Antonia liebte es, sich an heißen Sommertagen nackt auf einem sauberen, weißen Bett zu räkeln, sie liebte alle Attribute des Spätsommers, seine Trägheit, den beißenden Geruch der Apfelpressen und den warmen Regen der letzten Augusttage; sie liebte es, nur leicht oder gar nicht bekleidet an ihren Glasmalereien zu arbeiten; sie liebte die Farbe Rot, und arabische Musik, seit sie in Spanien einer Gruppe gelauscht hatte, die im Verborgenen die Tradition ihres Volkes weiterführte.
Und sie liebte Männerbrüste. Überall gab es Soldaten, die sich in Marschpausen an Brunnen kühlten, und Steinmetze, die im Sommer mit freiem Oberkörper arbeiteten, und denen sah sie mit Vorliebe zu, wobei sie darauf achtete, nicht beobachtet zu werden. Männerbrüste, gleichgültig, ob behaart oder glatt, muskulös oder flach, faszinierten sie, und außer der Berührung von Glas war ihr die Berührung einer Männerbrust mit Fingern oder Lippen am liebsten. Davon konnte sie nie genug bekommen.
Carlotta war die Erste, die sie verstand. Natürlich hatte Antonia früher, in Ulm, Mädchen um sich gehabt, und später, in Straßburg, Amiens, Trier und Cuenca war sie jungen Frauen ihres Alters begegnet, zumeist Töchtern von Malern oder Architekten. Aber sie hatte deren Bekanntschaft stets nur hingenommen und niemals zu Freundschaft werden lassen. Sie mochte es, keine Freunde zu haben, aber jetzt, nachdem sie Carlotta kennengelernt hatte, sprudelten alle jene
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