Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Gedanken, die sie jahrelang für sich behalten hatte, aus ihr heraus, leicht und ungeniert wie Wasserspiele. Obwohl sie sich erst seit einem Monat kannten, wusste Carlotta bereits mehr von ihr als alle Architektentöchter der Welt. Carlotta war die erste Freundin, die sie hatte, und sie freute sich darauf, ihr von der Begegnung mit dem Jesuiten zu erzählen. Unterhaltungen mit Carlotta waren äußerst erheiternd.
Als sie die Tür zu ihrem Atelier öffnete, schlug ihr Kälte und der Geruch von Schimmel entgegen. Aus der Welt der Glasmalerei wieder zurückzukommen in die Wirklichkeit des Lebens, das war für Antonia jedes Mal, als würde man von einem Palast geradewegs in den Kerker geworfen. Zwar fielen Sonnenstrahlen in den Raum – Sonnenlicht war der wichtigste Freund eines Glasmalers -, doch sie wärmten hier drinnen kaum. Man hatte Antonia und ihren Vater in einem alten, halb verfallenen und zugigen Palazzo untergebracht – Palazzo Rosato, welch unsinniger Name für ein blassblau gestrichenes Gebäude -, der innen kälter war als die Luft draußen. Ein Atelier, zwei Schlafräume, mehr war ihnen nicht gegeben worden. Nur eine Tür weiter im selben Palazzo wohnten zwei italienische Wäscherinnen, die sich jeden Tag mindestens einmal mit den französischen Küchenhilfen und einem spanischen Barbier von gegenüber stritten. Die Sprachen wirbelten durcheinander wie beim Turmbau zu Babel, wo keiner den anderen verstand. Zweimal täglich kam eine alte, krummbeinige Frau und brachte Antonia und Hieronymus kalte oder lauwarme Speisen vorbei, die sie auf dem Pult für die Entwürfe abstellte, wo sie dann zwischen Stiften, Tintenfässern, Papierrollen und Glassplittern gegessen wurden.
Dieses Quartier zeigte Antonia jeden Tag, welchen Stellenwert Glasmaler in den Augen der Geistlichkeit hatten. Es war eine bittere Ironie, dass allen Künstlern jahrhundertelang weniger Respekt entgegengebracht worden war als Stallknechten, und gerade jetzt, wo eine neue Zeit angebrochen war und Architekten und Maler und Komponisten plötzlich hofiert und umworben und gut entlohnt wurden, gerade jetzt war die Glasmalerei eine sterbende Kunst, dem Untergang geweiht. Die protestantische Hälfte Europas verdammte die Glasmalerei als Abgötterei, und so, wie ein wucherndes Unkraut den Blumen die Wurzeln kappt, so schnitt die Lehre Luthers und vor allem Calvins überall dort, wo der Wind ihren Samen hinwehte, der farbenfrohen Mystik der Glasmalerei die Lebensadern ab. Die Reformation trieb die Glasmaler vor sich her, verjagte sie aus Pommern, Brandenburg, Sachsen, Mecklenburg, Hessen, Württemberg, Schweden, Dänemark, der Schweiz, Böhmen, Mähren, Ungarn, Schottland, aus Teilen Frankreichs … Wie ein vom Feuer eingekreistes Tier wandte man sich mal hierhin und mal dorthin, immer in der Hoffnung, Calvins Brand zu entkommen.
Was die eigene Kirche betraf, die Kirche von Rom, so schmückte sie sich seit einiger Zeit lieber mit gewaltigen Fresken an Decken und Wänden und sparte dafür an den Fenstern. In Italien war die Lage noch schlimmer, denn Italiener hatten kein Gefühl für die Glasmalerei. Gab man ihnen eine Wand oder eine Leinwand, dann schufen sie gewaltige Bildwerke voller lebendiger Figuren. Auf Glas versagten sie kläglich. Sie nahmen es nicht ernst. Sie versuchten, auf Glas zu malen, als hätten sie eine Mauer vor sich, und brachen die alten Traditionen des Handwerks, wonach das Glas bei der Herstellung durch den Zusatz bestimmter Stoffe eingefärbt, danach in Stücke geschnitten und durch den Glasmaler mosaikartig zu einem Bild zusammengesetzt wurde. Farbe, die aufgetragen wurde, setzte man nur für Details und Gesichtszüge ein. Italienische Glasmaler hingegen pinselten Schichten über Schichten Rot, Grün und Blau auf, bis die Leuchtkraft des Glases, die Seele der Glasmalerei, buchstäblich an Farben erstickte. In Italien war man davon begeistert, für die Glasmaler der alten Tradition jedoch ging ein weiteres Land verloren. Die Aufträge wurden überall spärlicher, die Honorare ebenso, und viele Glasmaler gaben auf.
Als Antonia aus dem Nebenraum das Gelächter Carlottas hörte, hellte sich ihre Stimmung wieder auf. Wenn Carlotta lachte, bedeutete das, dass sie guter Dinge war, und wenn sie guter Dinge war, war das ein Jungbrunnen für Antonias alten Vater. Sie nahm sich schweren Herzens vor, die beiden jetzt nicht zu stören, auch wenn sie lieber sofort mit Carlotta gesprochen hätte.
Mit einem Blick überflog sie den Raum
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