Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
nicht taub, auch wenn Sehkraft und Gehör nachließen. Er war einfach ein zu vornehmer, großmütiger Charakter, als dass er Carlotta darauf angesprochen hätte – er sprach ja auch Antonia nicht auf ihre Eskapaden an, obwohl sie ihm im Lauf der letzten zehn Jahre nicht verborgen geblieben waren. Er war ein guter, wortkarger Mensch, ein Mensch der fürsorglichen Blicke und liebevollen Gesten. Nie hatte er, wie die Väter so vieler anderer Kinder, die Hand gegen seine Tochter erhoben, nie hatte er sie spüren lassen, dass sie nur ein Mädchen war, und nie wäre es ihm eingefallen, eine wichtige Sache ohne sie zu entscheiden. Manchmal allerdings wünschte Antonia, dass er mehr aus sich herausgehen und mit ihr reden würde. Welche Sorgen machte er sich um Antonia, um ihre Zukunft, um seine Zukunft? Und welche Gefühle hegte er, wenn er an die Vergangenheit dachte, an die schreckliche Nacht vor zwanzig Jahren, an die spätere Vertreibung aus Ulm, an den Tod von Adelheid, Antonias Mutter. Über all das, und was sonst noch in ihm vorging, hatte er niemals gesprochen.
Sie setzten sich zu Tisch, in dessen Mitte sich ein Hügel aus allerlei Utensilien der Glasmalerei erhob. Hieronymus gab Carlotta die Hälfte seiner Grütze ab. Eine Weile schwiegen sie, was noch nie vorgekommen war. Antonia begann ein Gespräch darüber, wie viel von dem, was die Krummbeinige über Bertanis Tod erzählt hatte, wohl stimmte und wie viel nur Gerücht war, doch ihr Vater sagte dazu nichts, und Carlotta machte ein Gesicht, als liege die Grütze ihr schwer im Magen.
Nachdem Hieronymus gegangen war, um den Austausch des Glasporträts im Dom zu überwachen, saßen Antonia und Carlotta noch beisammen.
»Wann wirst du es ihm sagen?«, fragte Antonia.
»Was?«
»Dass du deine Arbeit aufgeben wirst, um mit ihm zu leben.«
»Er hat mich noch nicht gefragt.«
»Er wird es tun.«
»Das sollte er besser nicht.«
»Wieso?«
»Wieso! Niemand heiratet eine Hure. Einmal Hure, immer Hure. So heißt es doch. Die Leute werden ihn verspotten.«
»Glasmaler sind Vagabunden: Wir ziehen von Stadt zu Stadt. Im einen Jahr in Reims, im nächsten in Köln, im übernächsten in Venedig. Dort weiß keiner, wer oder was du warst.«
»Aber er wird es immer wissen. Ich bin nun einmal eine ganz andere Frau als deine Mutter.«
»Sie würde dich mögen. Sie wäre mit dir einverstanden.«
»Das sagst du nur, um mich aufzumuntern. Adelheid war – nach allem, was du mir erzählt hast – alles, was ich nicht bin, nämlich tapfer, ehrlich und voller Stolz.«
»Ja, sie war stolz. Sie hat allen im Geiste vor die Füße gespuckt, die ihr Vorschriften machen wollten. Man konnte sie zu nichts überreden und von nichts überzeugen, das ihr nicht vollständig einleuchtete. Ihr Gewissen war ihr heilig, aber es ließ sich zu einem einzigen Satz zusammenfassen: Liebe und strebe und tu, was du willst. Sie brauchte keine Gebote und kein Regelwerk. Liebe und strebe und tu, was du willst – das war die Richtschnur ihres Lebens. Ich weiß, wie sie dachte, und deswegen weiß ich, dass sie dich als Freundin angesehen hätte, so wie ich. Sie würde dir die Hand geben.«
Antonia legte ihre Hand auf die von Carlotta und ergänzte: »Ich hätte dich gerne als Stiefmutter.«
Carlotta konnte eine gewisse Rührung nicht verbergen, aber irgendeine unsichtbare Kraft hielt sie davon ab, sich festzulegen.
»Danke, Liebes. Aber jetzt ist kein guter Moment, wichtige Entscheidungen zu treffen.«
»Wieso?«
»Ich brauche Zeit.«
»Wofür?«
Diese Frage war wie ein Abgrund, über den es keine Brücke gab. Hier kam Antonia nicht weiter. Konnte es sein, dass Carlotta stärker an ihrer Arbeit hing als sie den Anschein erweckte? Dass sie dieses Leben schätzte? Dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gab? Oder dass sie von jemandem unter Druck gesetzt wurde?
»Vater hat dich gestern Abend vermisst. Er ist zu deinem Quartier gegangen und hat geklopft, aber du hast nicht aufgemacht.«
»Ist er hineingegangen?«
Diese Frage, dachte Antonia, hatte Carlotta bereits der Krummbeinigen gestellt.
»Nicht dass ich wüsste«, sagte sie. »Er ist bis in die Nacht spazieren gegangen, in der Hoffnung, dich irgendwo auf der Straße anzutreffen. Aber vielleicht warst du ja bei – bei einem anderen …«
»Nein«, unterbrach Carlotta.
»Ich könnte es verstehen, wenn du Vater vorerst einiges verschweigst, um ihm Schmerz zu ersparen. Aber wir beide, du und ich, wir erzählen uns doch alles. Mir kannst du
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