Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
doch ein Ausdruck von Lebendigkeit in diesem geschundenen Körper. Am schlimmsten war es, wenn Inés sitzend mit dem Oberkörper vor- und zurückschaukelte, vor und zurück, in stundenlanger, nicht endender Bewegung, ein Perpetuum mobile der Verzweiflung. An solchen Tagen half kein Arzt und keine Arznei, und es kam vor, dass Carlotta es irgendwann nicht mehr aushielt und weinte. Sie brach neben Inés zusammen, klammerte sich an ihre Hand und schluchzte – und Inés schaukelte vor und zurück.
Carlotta holte sich einen zweiten Stuhl – das Zimmer, das Leben in diesem Zimmer, hatte nur zwei Stühle – und setzte sich neben Inés. Mit der einen Hand ergriff sie die von Inés, mit der anderen streichelte sie ihr Haar. Inés’ Haare waren etwas Besonderes, sie fühlten sich angenehm an. Alles Übrige an der jungen Frau, die Augen, die Haltung, waren reizlos, aber ihre Haare waren weich wie Kaninchenfell.
»Bald ist alles getan«, sagte Carlotta, »dann gehen wir weg von hier, weg auch von Rom. Wo würde es dir am besten gefallen? Am Meer? Genua? Magst du Mondlicht, das sich auf dem Wasser bricht? Oder auf das Land nach Assisi, wo von morgens bis abends die Grillen ihr Lied singen? Du hast mir einmal gesagt, wo du gerne leben würdest, damals, als wir noch in Siponto wohnten. Aber das ist so lange her, und ich hatte dir nicht richtig zugehört. Wohin möchtest du gerne reisen? Ich erinnere mich nicht, Inés. Du wirst es mir noch sagen, ja?«
Carlotta erwartete keine Antwort, keine Reaktion, trotzdem sprach sie weiter: »Du wirst es mir schon noch sagen. Eines Tages wirst du mich ansehen und ein Wort sprechen, nur eines, und das ist der Ort, wohin ich dich und mich bringen werde. Wir werden ein hübsches, kleines Haus haben. Siehst du es vor dir? Es hat eine tadellos gepflegte Wand mit einem hellgelben Anstrich wie gleißendes Licht, die Fensterläden sind zur Mittagszeit geschlossen. Dort sind wir beide, nur du und ich – und vielleicht eine beleibte Wirtschafterin, die, sagen wir, Maria heißt, ein wenig resolut ist, doch ein gutes Herz hat. Zwei Hunde machen ihr das Leben schwer, wir jedoch lieben die Hunde – wir brauchen noch Namen für sie. Es sind Mischlinge, die wir irgendwo aufgelesen haben …«
Die Tränen tropften an Carlottas Kinn herab, während sie weitersprach. Noch immer streichelte sie die Haare von Inés, noch immer sah sie mit ihr zum Fenster hinaus auf die nahe Hauswand, die zerfiel, als wäre sie vom Aussatz befallen.
»… Innocento muss sterben«, hörte Carlotta sich sagen. »Sein Tod ist die Bedingung, die uns die Zukunft stellt. Wir würden sonst keinen Frieden haben, etwas wäre unerledigt. Die Toten würden uns aus den Gräbern anschreien, Nacht für Nacht, und am Tage läge das höhnische Gelächter der Mörder in der Luft.«
Carlotta erhob sich und schritt langsam zur Tür.
»Ich werde uns etwas Wasser holen«, sagte sie und ging.
Inés wandte ihren Kopf zur Tür, die sich schloss. Ihr Blick wurde ein wenig lebendig, fast unmerklich. Sie stand auf. Ihre Finger, die auf eine seltsame Art nicht zu ihr zu gehören schienen, krallten sich in ihre Brüste, und ihr Mund verzerrte sich zu einem stummen Schrei.
4
Oreste Lippi, ein Franziskaner von etwa vierzig Jahren, hatte große Ähnlichkeit mit einer Amsel: schwarz gekleidet, starrer Blick und mit der befremdlichen Eigenschaft ausgestattet, aus völliger Starre in plötzliche Bewegung zu verfallen und umgekehrt. Trotz seiner düsteren Ausstrahlung hatte er nichts Bedrohliches an sich. Man sah ihm an, dass man nur einmal fest mit dem Fuß aufstampfen brauchte, und schon würde er auf und davon flattern.
»Ich bin Luis de Soto«, sagte Luis, als Sandro mit ihm vor dem Quartier Bertanis ankam, wo Bruder Lippi, der Diener Bertanis, bereits wartete. Luis ließ seinen Namen einen Augenblick in der Luft schweben, um dem Diener Gelegenheit zu einer Reaktion zu geben. Doch Oreste Lippi machte ein Gesicht, als hätte ihn ein Wildfremder auf der Straße angesprochen und gesagt: Meine Schuhsohle löst sich. Von diesem Augenblick an war er bei Luis durchgefallen.
»Und ich bin Bruder Sandro Carissimi«, stellte Sandro sich vor, daraufhin machte Oreste Lippi eine blitzschnelle, enorm tiefe Verneigung, von der Sandro glaubte, sie könne unmöglich gesund sein.
»Ich habe Euch bereits erwartet, ehrwürdiger Vater. Euer Gehilfe sagte mir, Ihr hättet einige Fragen an mich.«
»Mein – wer?«
»Gehilfe, ehrwürdiger Vater. Ein Junge noch,
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