Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
doch …«
»Liebes«, sagte Carlotta, lächelte und drückte ihre Hand, »ich habe geschlafen, tief und fest geschlafen.«
»Kein anderer Mann?«
Carlotta gab ihr einen Kuss auf die Wange, wie zum Abschied. »Kein anderer Mann.«
Antonias Tagebuch
Von ihrer Vergangenheit erzählt Carlotta nie, ebenso wenig wie von ihren Vorhaben, Hoffnungen, Plänen. Beides, Vergangenheit und Zukunft, sind wie verriegelt. Carlottas Leben ist kein Fluss wie das Leben der meisten anderen Menschen, sondern ein Haus ohne Ein- und Ausgang, bevölkert von Menschen, die man nie zu Gesicht bekommt. Irgendetwas Trauriges liegt in diesem Leben, in diesem Antlitz, auch wenn es oft so unbekümmert scheint.
Antonia hielt inne. Sie stand am einzigen Pult des Ateliers, das immer frei war von Gerümpel, und hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um das bemalte Fenster zu berühren, das in ein bewegliches Gestell eingepasst war und wie eine quadratische Sonne leuchtete. Es zeigte einen Frauenkopf, der Antonia ähnlich war, aber ihre Mutter darstellte: ein blasses Gesicht mit ein paar Sommersprossen, Haare in einer Farbe, die Weizenfelder bei Sonnenuntergang annehmen, wache Augen, einen sehr schlanken Hals … Alles in diesem Gesicht strahlte Tatkraft, aber auch Rastlosigkeit und unermüdliche Suche aus. Das Fenster, drei Ellen lang und drei Ellen breit, war Antonias erste eigenständige Arbeit gewesen, gefertigt vor zwölf Jahren. Sie nahm es stets überall hin mit. Ihre privaten Einträge machte sie ausschließlich an diesem Pult vor diesem beweglichen Fenster, so dass sie immer das Gefühl hatte, kein Tagebuch, sondern Briefe an ihre Mutter zu schreiben, sich mit ihr zu unterhalten.
Das Licht, das durch das Fenster gefiltert wurde, verlieh dem Papier unter Antonias Händen und der Feder in ihrer Hand einen warmen gelblichen Schimmer.
Sie dachte über sehr vieles nach, das wert gewesen wäre, aufgeschrieben zu werden: über Carlotta, Hieronymus und über die Arbeit. Doch schließlich schrieb sie an diesem Mittag nur noch einen einzigen Satz.
Sandro Carissimi kennengelernt.
Als Carlotta ihr Zimmer im hintersten Winkel des Palazzos betrat, fiel ihr Blick als Erstes auf Inés. Sie saß auf einem Stuhl vor dem Fenster, und obwohl es dort nichts zu sehen gab außer die kupferrote, zerfallende Hauswand eines weiteren Palazzos, starrte sie weiterhin hinaus, ohne Carlotta auch nur kurz anzusehen. Kein Sonnenstrahl fiel auf ihr schlichtes braunes Kleid, und keine Regung hellte ihr Gesicht auch nur ein wenig auf. Es war, als stünde man vor dem Gemälde eines flämischen Meisters.
Oft dachte Carlotta, dass sie alles ein bisschen besser ertragen würde, wenn Inés mit ihr sprechen oder ihr zublinzeln oder sie aus freien Stücken berühren würde. Wenn es einen Kontakt, eine Verbindung zwischen ihnen gäbe. Wenn nicht jede Aktivität, selbst die geringste, von Carlotta ausgehen müsste. Doch sie war allein, blieb allein, seit fünf Jahren. Da war niemand, mit dem sie sprechen, wirklich sprechen konnte, niemand, der sie tröstete, ihr dankte, Vorwürfe machte, etwas auszureden versuchte, niemand, an dem sie sich reiben konnte. Früher, mit ihrem Mann, hatte es ständig Diskussionen und Zwiste gegeben, die am Morgen die Welt bedeuteten und am Abend vergessen waren, und von ihrer Tochter hatte sie immerzu das schönste, dankbarste Lächeln der Welt erhalten. Sie hatte etwas gegeben und etwas zurückbekommen. Gefühle im Tausch. Das war vorbei, Vergangenheit, und die Vergangenheit war tot.
Carlotta war allein – und war es doch nicht. Inés war da, saß auf einem Stuhl. Auch wenn sie nichts sagte und nichts tat, so war sie doch anwesend, ein lebendiges Geschöpf, ein Mädchen, eine junge Frau von zwanzig Jahren, wehrlos, bis ins Innerste verletzt und mit Carlotta verbunden durch das gleiche Schicksal. Zumindest dieser Berührungspunkt, diese Art der Verständigung, war ihnen gegeben.
»Wie geht es meiner Inés?«, fragte Carlotta, ohne auf eine Antwort zu hoffen, und streichelte die blassen, eingefallenen Wangen. Sie hatte immer ein wenig Scheu davor, Inés zu berühren, weil sie so zerbrechlich war. Unter der fast durchsichtigen Haut erstreckte sich ein Netz von feinen Äderchen, so als lebe noch ein anderes Wesen in ihr, und ihre Knochen brachen manchmal wie Glas. Ein Großteil von Carlottas Einnahmen floss in die Taschen von Ärzten. Immer war etwas anderes, ein Fieber, ein Husten … Aber das Geld gab Carlotta gerne, waren Krankheiten
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