Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Untergeschoss, in meiner Stube.«
»Wann bist du in deine Stube gegangen?«
»Wie immer, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang.«
»Das ist früh.«
»Bischof Bertani aß abends so gut wie nichts, es bekam seinem Magen nicht. Er kleidete sich auch selbstständig aus. Am Abend brauchte er nur selten Dienerschaft.«
»Hast du jemanden kommen hören?«
»Nein.«
»Obwohl der Täter praktisch an deiner Stube vorbeigehen musste, um zum Bischof zu gelangen.«
»Ich habe geschlafen – wie die meisten Menschen es nachts zu tun pflegen. Und viele Täter halten es leider für ungeschickt, wie eine Kuh zu ihrem Tatort zu trampeln.«
»Dein Sarkasmus ist fehl am Platz. Ist etwas gestohlen worden?«
Sandro nutzte einen günstigen Moment, in dem Luis die Papiere mit der Rede ein wenig anhob, um sie seinem Mitbruder aus der Hand zu nehmen.
Luis blickte ihn verdutzt an, ganz so, als sei er soeben von ihm geohrfeigt worden, und fuhr dann, an Oreste Lippi gewandt, fort: »Antworte.«
»Ich – weiß nicht. Darum habe ich mich noch nicht gekümmert. Auf den ersten Blick würde ich sagen, es fehlt nichts, aber …«
»Wir lassen das überprüfen. Wir lassen auch dich überprüfen.«
»Ich werde verdächtigt?«
»Du hast keine Fragen zu stellen.«
Oreste Lippi war besiegt. Er wandte sich mit einem inständig bittenden Blick an Sandro: »Ich glaubte … Ich war der Meinung, Ihr führt die Untersuchung, Bruder Visitator.«
Sandro blickte von der Rede auf, die er durchblätterte, atmete tief ein und suchte nach der Antwort auf eine Frage, die ihn unangenehm berührte. Er war froh und dankbar, dass Luis angeboten hatte, ihm bei der Untersuchung zu helfen, und er war jetzt viel zuversichtlicher, den Mord aufklären zu können. Doch den einen oder anderen Akzent hätte er gerne selbst gesetzt, und die Art und Weise, wie Luis den Diener bedrängte, nur weil er ihn nicht mochte, tat ihm ein bisschen weh. Doch er zog es vor, Luis nicht in die Quere zu kommen und sich weiter in die Rede zu vertiefen.
Er entfernte sich von Luis und Oreste Lippi, denn der schnelle, unangenehme Wortwechsel störte seine Konzentration. Er hatte noch nie zwei Dinge auf einmal tun können, wie angeblich Cäsar es vermochte, oder auch Luis, der gleichzeitig lesen, schreiben und eine Unterhaltung führen konnte.
Die Rede war nicht gerade lang, fünf Seiten, aber zweifellos vollständig, denn sie begann und endete mit Höflichkeitsfloskeln. Die Worte dazwischen allerdings hatten mit Höflichkeit wenig zu tun: Provokant ging Bertani zum Angriff über, indem er die Missstände der Kirche anprangerte – Ämterkauf, Ablasshandel, Arroganz des Papstamtes, Verschwendungssucht – und auf Reformen drang. Die Rede war vermutlich absichtlich so angelegt, dass sie die Reformer begeistern und die Konservativen empören sollte. Sie sollte spalten. Sie sollte die Schlacht eröffnen, deswegen war Bertani ja auch als erster Redner vorgesehen gewesen.
Sandro steckte die Papiere in seine Kutte.
Während er die Rede gelesen hatte, war er, ohne auf seine Umgebung zu achten, langsam durch das Quartier gegangen und dabei in den anderen, den zweiten Raum gelangt. Eine dünne Schicht Stroh lag auf dem Boden, die das Blut aufsaugen sollte: zwei Schritte lang, einen Schritt breit wie ein Sarkophag. Hier war der Bischof von Verona gefunden worden, direkt neben einer Anrichte auf dem Bauch liegend – zwischenzeitlich war er längst zur Untersuchung der Todesursache abgeholt worden. Auf der Anrichte stand eine schwere silberne Waschschüssel, ebenfalls voller Blut.
Sandro untersuchte das Bett, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Die Laken waren zerwühlt, wenn auch nicht übermäßig stark. Er setzte sich auf die weiche, aufwändig gearbeitete Matratze und suchte nach irgendwelchen Spuren einer Liebesnacht, doch seine Gedanken waren woanders. Es war viele Jahre her, seit er das letzte Mal ein solch breites, bequemes Bett unter sich gespürt hatte. Er wusste sogar noch den Tag: Es war der 17. August 1544 gewesen, in der Nacht, bevor er Matthias Hagen traf. Er war bei Beatrice Rendello gewesen, einer reichen vierundzwanzigjährigen Witwe, die beschlossen hatte, dass ihr Leben nach dem Tod des Gatten erst richtig anfing und reihum alle Freunde Sandros verführte. Mit ihm, so sagte sie immer, langweilte sie sich am wenigsten, und er war noch jung genug, um das als Kompliment zu verstehen und damit vor den Freunden zu prahlen. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, eine
Weitere Kostenlose Bücher