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Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin

Titel: Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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Jesus in Jerusalem, ein beliebtes Thema in der Glasmalerei, und Antonia war es schwergefallen, dem Motiv neue künstlerische Aspekte abzugewinnen. In einer Aufwallung von Respektlosigkeit – nicht gegen Jesus, sondern gegen jene, die ihn immer auf die gleiche Art darstellten – zeigte sie ihn mit kurzen, gepflegten Haaren und nicht ganz so abgehärmt, als habe er sich ein Leben lang nur von Heuschrecken ernährt. Er sollte etwas Gesundes, Maßvolles ausstrahlen. Doch Hieronymus musste von dieser Auffassung erst noch überzeugt werden. Antonia, sagte er immer, du bist zu jung und schnell für mich. Ich komme nicht mehr nach. Meistens erklärte er sich dann aber doch mit ihren Ideen einverstanden.
    Vor den Gestellen, in denen das Buntglas aufrecht gelagert wurde, prüfte sie die Reinheit der Farben. Es war unter Hieronymus’ Anleitung hier in Trient hergestellt worden und von außerordentlicher Güte. Der Zusatz einer geringen, genau dosierten Menge Kupfer bei der Glasherstellung hatte ein frisches Grün bewirkt, und der nur sparsame Einsatz von Kobalt hatte das sonst für Kirchenfenster verwendete Tiefblau vermieden und stattdessen ein Azur von der Durchsichtigkeit des Meeres geschaffen. Die Santa Maria Maggiore war innen zu hell und mit vielen Gemälden im Stile Raffaels ausgestattet. Zu versuchen, mit dunklen Farben ein geheimnisvolles Licht in die Kirche zu bringen, wäre hoffnungslos gewesen, also hatte man die Not zur Tugend gemacht und beschlossen, die Heiterkeit zu betonen.
    Antonia befühlte das Glas wie einen seidigen Stoff und lächelte. Was für eine großartige Substanz, in ihrer Wirkung nur mit Kaiserkronen vergleichbar. Sie nahm eine der hellroten Platten aus dem Gestell und versuchte, sie auf eine Arbeitsfläche zu legen, wo sie sie zuschneiden wollte. Schon tausendmal hatte sie diese Muskelarbeit geleistet, schweres, schlecht zu greifendes Glas quer durch den Raum zu tragen, und immer war es gutgegangen, doch heute blieb ihr linker Fuß in einem herumliegendes Seil hängen, und als sie sich befreien wollte, verlor sie das Gleichgewicht und taumelte. Fast wäre ihr das Glas aus den Händen geglitten. Atemlos beschloss sie, die Platte vorsichtig abzusetzen, als sie durch das rubinrote Glas, nur eine Armeslänge von ihr entfernt, das Gesicht eines Mannes sah wie die Fratze eines Phantoms. Vor Schreck löste sich ihr Griff – und es ertönte ein gellendes, ein schmerzendes Geräusch von splitterndem Glas.
    Dann war Stille.
    Eine Stille, als würde ein Alptraum durchatmen.
    Antonia blickte ungläubig zu Boden, wo sich Millionen von winzigen Blutstropfen um sie herum verteilt hatten. Ihr Mund öffnete sich, und heraus kam ein verzweifelter Schrei.
    Blut, überall war Blut. Sie sah auf ihre Hände – Blut, auf ihre Füße – Blut.
    »Antonia.«
    Das Splittern und Klirren nahm kein Ende. Sie schrie. Sie drehte sich in alle Richtungen – Blut an den Wänden.
    »Antonia.«
    Sie hielt sich die Ohren zu. Sie spürte zwei kräftige Hände, die sie packten.
    »Antonia. Hörst du mich? Antonia.«
    Jetzt hörte sie ihn. Jetzt sah sie sein Gesicht, so beruhigend, wie sie es von jeher kannte. Und wie ein Windstoß erfasste sie eine große Erleichterung.
    »Matthias? Ich glaube es nicht. Matthias!« Sie fiel ihm um den Hals, klammerte sich an seine Schultern und schloss die Augen. Ein von früher vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase, und sie klammerte sich noch fester an ihn. Sie sah Bilder, erinnerte sich an Momente, die zu den schönsten ihres Lebens gehörten: Matthias und sie sitzen auf einer warmen Mauer; Matthias und sie beißen gleichzeitig in denselben Apfel; Matthias und sie klettern auf einen Baum; Matthias und sie berühren sich zum ersten Mal mit den Lippen.
    Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sie sich langsam von ihm löste. Er gab ihr ein Tuch, das nach ihm roch, mit dem sie sich das Gesicht trocknete. Um sie herum lagen die Splitter des roten Glases. Nirgendwo war Blut.
    »Das war meine Schuld«, sagte er. »Ich habe dich erschreckt. Ich wollte helfen, aber das ging wohl gründlich daneben.«
    Sie verneinte wortlos und wischte sich ein letztes Mal über das Gesicht. Dann gab sie sich Mühe, heiter auszusehen.
    »Ich weiß gar nicht, was eben mit mir los war. Du musst mich für überspannt halten.«
    »Ich halte dich für so hübsch wie eh und je.«
    Sie sah an sich herunter: ein einfaches, wollgraues Kleid und eine vergilbte und vom Schwarzlot verschmierte Schürze. Sie sah

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