Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
nickte. »Wusste ich es doch.« Aaron war klug, und er ließ sich von Respektspersonen nicht einschüchtern. Der Junge konnte Sandro noch nützlich sein, wenn es ihm gelang, dessen Selbstbewusstsein in vernünftigen Grenzen zu halten.
Sandro faltete Aarons Zeichnung zusammen und verstaute sie in seiner Kutte, dort, wo bis vor Kurzem noch die Rede Bertanis war.
»Wir sind hier fertig, der Bischof kann für das morgige Requiem hergerichtet werden. Ich werde jetzt gehen.«
Mit einem Blick auf Aaron, der Anstalten machte, ihm zu folgen, fügte er hinzu: »Allein.«
Als Sandro ins Freie trat, glommen die Straßen und Häuser in jenem bleichen Violett, das es nur in den wenigen Augenblicken zwischen dem Sonnenuntergang und dem Einbruch der Dunkelheit gab. Der Himmel, der Mond, die Berge, die Hänge, die Wälder, die Fassaden, das Pflaster und die paar Menschen in den Gassen – all das wurde vom Blasslila durchdrungen und gehörte zusammen wie zu keiner anderen Stunde des Tages. Der Wind ließ Sandros Kutte wie einen Wimpel flattern. In Stößen fegte er durch das Tal der Etsch, von Norden nach Süden, geruchlos, klar und frisch, ein Oktoberwind.
Sandro hatte eigentlich vorgehabt, direkt zum Kloster San Lorenzo zu gehen, wo er untergebracht war, dort eine Kleinigkeit zu essen und dann an der Abendmesse teilzunehmen. Aber jetzt zog es ihn woanders hin.
In der Casa Volterra brannte Licht. Eines der Fenster war von einem flackernden, warmen Gold erfüllt, gelegentlich unterbrochen von einem vorbeilaufenden Schatten. Sandro erkannte in der Gestalt seinen Halbbruder.
An die gegenüberliegende Hauswand gelehnt, blickte er unentwegt zu dem Fenster hinauf. Er fühlte einen undeutlichen Schmerz, wie immer, wenn er an seine Mutter dachte. Die Spielkameraden in seiner Jugend hatten Mütter von anderer Art als er gehabt: italienische Mütter, römische Mütter, laut, schimpfend und derb, doch von einer intimen Zärtlichkeit. Seine Mutter, Elisa, schüttete ihre Liebe für ihn aus einem riesigen Füllhorn, jeden Tag, jede Stunde, Jahr um Jahr. Er hatte nie etwas anderes als Liebe von ihr bekommen. Auch seinen beiden jüngeren Schwestern ging es so. Aber für ihn, Sandro, empfand sie noch ein wenig mehr, eine übergroße Anhänglichkeit, die etwas Trauriges an sich hatte, so als sei er an die Stelle von etwas anderem getreten, das ihr genommen worden war. Nur der Religion brachte sie ähnlich intensive Gefühle entgegen, vielleicht noch eine Spur intensiver, und Sandro spürte, dass, wenn sie beides nicht mehr hätte, ihn und den katholischen Gott, sie eine verlorene Frau wäre.
Sandros Vater wurde von ihr geachtet und geehrt, mehr aber auch nicht. Sie schaffte es nicht, einen Kaufmann zu lieben, jemanden, der mit Seide, Linnen, Spitze und vor allem mit Raffinesse sein Geld verdiente. Sandro war natürlich dazu ausersehen gewesen, den Handel zu übernehmen, doch sie nahm ihn dagegen in Schutz, noch bevor er sich selbst in Schutz nehmen konnte. Tat er nur, was seine Mutter erwartete, als er sich weigerte, in das gutgehende Geschäft einzusteigen? Oder war ihm tatsächlich die Gewieftheit und Schlitzohrigkeit des Vaters nicht geheuer? Jedenfalls trieb es Sandro immer schon zu etwas, womit er in Einklang leben konnte. Eine Zeitlang spielte er mit dem Gedanken, Chronist zu werden und in ferne Länder zu reisen wie Marco Polo, aber er fand weder den Mut noch den Anlass, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er trieb sich in den Straßen herum, zusammen mit anderen Jungen seines Standes, nicht arm, nicht reich, die nichts mit sich anzufangen wussten. Und in all den Jahren wurde er von Elisa geliebt, vergöttert, so wie er sie liebte und vergötterte.
Als er feststellte, dass sie noch ein Leben geführt hatte, bevor es ihn gab, war das ein Schreck.
Er war neunzehn Jahre alt, da stand eines Sommertages ein junger Mann vor dem Tor der Casa an eine Hauswand gelehnt, so wie Sandro jetzt, während er daran zurückdachte. Sandro sprach den Fremden an, und er antwortete: »Ich suche Elise … Carissimi. Habe ich das richtig ausgesprochen?«
Sandro nickte. Der Fremde sprach schlechtes, aber gerade noch verständliches Italienisch.
»Sie heißt aber Elisa«, korrigierte er.
»Elise Carissimi«, beharrte der Fremde. »Wohnt sie hier?«
»Ja. Ich auch, ich bin ihr Sohn. Kennt Ihr meine Mutter?«
Der Fremde antwortete nicht. »Darf ich sie sprechen?«
»Sicher, warum nicht? Um diese Tageszeit näht sie immer.«
Sandro hatte ihn
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