Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Sie zog daran – nur ein wenig -, erkannte ein I und ein P – und plötzlich blickte die Fremde ihr in die Augen.
Antonia spürte den heftigen Atem der jungen Frau auf ihrem Gesicht, und noch bevor sie etwas sagen konnte, legten sich zwei Hände um ihren Hals und drückten ihr die Luft ab. Zwei wahnsinnige, hasserfüllte Augen durchbohrten sie mit ihrem Blick. Antonias Schrei erstickte in der Kehle.
Mit aller Kraft versuchte sie, sich zu befreien. Sie taumelte zurück, packte die Handgelenke der Frau, und schließlich gelang es Antonia, sich von ihr zu lösen.
Da traf sie ein Schlag. Augenblicklich breitete sich ein mineralischer Geschmack in ihrem Mund aus, und ein Sprühregen roter Tropfen ergoss sich über das graue Kleid der Wahnsinnigen. Nach einem weiteren Schlag wurde es kurz dunkel vor Antonias Augen.
Sie fand sich am Boden wieder. Die Fremde hatte eine eiserne Stange mit Haken gegriffen, mit der man abends die Fensterläden schloss, und kam damit auf sie zu.
Antonia sprang auf. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. Ihr ganzer Körper spannte sich an, und sie stürzte zur Tür.
Die Eisenstange, von hinten geworfen, prallte direkt neben Antonia an die Wand, und Mörtel bröckelte zu Boden.
Antonia riss die Tür auf, doch die Wahnsinnige hielt sie von der Flucht ab. Es entstand ein stummer Kampf von vier Händen.
Schließlich gelang es Antonia, die Angreiferin von sich zu stoßen. Diese fiel hin, stand jedoch sofort wieder auf, so als wäre sie kein Mensch, sondern ein Geist.
Der kurze Moment der Bewegungsfreiheit hatte Antonia gereicht, um noch einmal die Tür aufzureißen und – endlich – zu fliehen. Sie war dem Tod entronnen.
War sie das wirklich? Kaum zu Atem gekommen, hörte sie Schritte in dem Seitengang, wo sie noch immer stand. Leise, zögernde Schritte. Wer war diese Wahnsinnige? In welcher Beziehung stand sie zu Carlotta? Und warum verfolgte sie sie?
Antonia klopfte an eine Tür – niemand öffnete. Sie versuchte, die Tür zu öffnen – sie war verschlossen. Sie suchte nach einem Brett, einem Stab, irgendetwas, womit sie sich verteidigen könnte – doch da war nichts.
Sie presste sich an die Wand und starrte dorthin, wo der Schatten auftauchte, der schmale Schatten einer Frau.
Es war eine alte, zahnlose Wäscherin.
»Was machst du da?«, rief sie. »Willst in meine Kammer, wie? Die, die fast nichts haben, bestehlen, was? Mach, dass du wegkommst.«
Das ließ Antonia sich nicht zweimal sagen. Während sie durch die Gänge streifte, begriff sie, dass es vorbei war, dass sie nichts mehr zu befürchten hatte, doch die Angst ließ sie dennoch nicht los, und ihre Schritte wurden schneller und immer schneller. Sie lief die Treppe in das obere Geschoss hinauf.
Erst als sie die Tür zum Atelier sah, legte sich ihre Angst, und als sie eintrat, spürte sie ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung, auf einen anderen Menschen zu treffen.
»Es scheint«, sagte er, »wir sehen uns immer zur Morgendämmerung.«
Bruder Sandro Carissimi stand mitten im Atelier neben den Entwürfen. Er sah aus, als hätte er in der letzten Nacht nicht gut geschlafen. Als er ihre aufgeplatzte Lippe bemerkte, kam er auf sie zu.
»Seid Ihr überfallen worden?«, fragte er besorgt.
»Gewissermaßen.«
Er handelte schnell und gefasst, holte einen Stuhl herbei, auf den sie sich setzte, und fragte, wo er frische Tücher fände. Diese tauchte er in kaltes Wasser und tupfte damit ihre Lippe ab. Sie schwieg und sammelte sich wieder. Eine Weile war sie nicht fähig, etwas anderes zu tun, als sich versorgen zu lassen. Bruder Sandro stellte ihr keine Fragen, vielleicht weil er Rücksicht nehmen wollte – oder weil er meinte, hinter ihrer Verletzung verberge sich ein Geheimnis, das ihn nichts anginge.
Noch immer begriff sie nicht, was geschehen war, aber sie spürte, dass sie jetzt in Sicherheit war, sie spürte die Sorge eines anderen Menschen. Mit einem dankbaren Blick sagte sie: »Normalerweise machen Frauen das bei Männern, Vater.«
»Bruder Carissimi«, korrigierte er. »Wir sind nicht normal, habt Ihr das vergessen? Euch fasziniert die Apokalypse, und ich jage einen Mörder.«
Sie hatte erfahren, dass er zum Visitator ernannt worden war, und überlegte kurz, ihm von der Wahnsinnigen zu erzählen. Aber zum einen wäre dadurch auch Carlotta ins Zwielicht gerückt worden, und zum anderen glaubte Antonia nicht, dass Bertanis Tod und die Wahnsinnige irgendetwas miteinander zu tun hatten. Sie würde einfach
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