Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Carlotta nach der unberechenbaren Fremden fragen. Für alles würde es eine vernünftige Erklärung geben.
Bruder Sandro hatte, neben ihr kniend, ihre Lippe gereinigt und ihre Stirn gekühlt. Er erhob sich und wusch die Tücher aus.
»Ich werde Euch gleich einen Arzt schicken.«
»Nicht nötig, es geht mir schon wieder viel besser.«
»Keine Widerrede. Er kostet Euch nichts. Wenn ich ihn bitte, Eure Wunden zu versorgen, wird er, so wie ich ihn einschätze, nichts berechnen, im Gegenteil, er wird Euch behandeln wie eine Königin. Wenn schon alle Angst vor mir haben, dann will ich wenigstens, dass es für irgendetwas gut ist.«
Sie nickte ihm dankbar zu. Er war bereits der zweite Mann, der ihr innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus einer unangenehmen Situation half. Gestern hatte Matthias sie nach einem ihrer Anfälle betreut, heute stand ihr Sandro zur Seite. Es gab Schöneres, als auf Männer den Eindruck einer verwirrten oder geschundenen Frau zu machen, doch ein wenig genoss Antonia diese Aufmerksamkeit.
»Wieso seid Ihr gekommen?«, fragte sie.
Er reichte ihr einen Becher Wasser. »Da Ihr Euch Eures Berufes wegen bestens mit Symbolik auskennt, dachte ich …« Er zog ein Papier aus seiner Kutte, zögerte jedoch, es ihr zu übergeben.
»Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für meine Fragen.«
»Normalerweise nicht«, stimmte sie zu. »Aber wie Ihr schon sagtet: Was ist schon normal an unserer Situation? Also bitte, zeigt mir, was Ihr da in der Hand habt.«
Er übergab ihr die Zeichnung, und sie verstand sofort sein Problem. Ein Laie konnte in diesen wenigen Strichen nichts anderes sehen als ein schlecht gemaltes Dreieck oder einen Schild. Und im Grunde war es ja auch nur ein Schild – wenn auch eines, das sprechen konnte.
»Schilde«, erklärte sie, »werden einerseits als Symbole der Gewalt verwendet. Wo in der Malerei ein Schild auftaucht, spielen sich Kriege und Kämpfe ab.«
»Heißt das, jemand erklärt wem auch immer den Krieg?«
»So ohne Weiteres kann ich das nicht sagen. Reicht Ihr mir bitte dieses Buch dort? Es enthält gängige Symbole, vor allem geistliche, aber auch einige weltliche, beispielsweise von Zünften.«
Sie blätterte eine Weile und fand ihre Vermutung bestätigt. »Ein leerer Schild ist hier nicht als Symbol verzeichnet. Um Euch weiterzuhelfen, müsste ich wissen, in welchem Zusammenhang das Zeichen auftauchte. Wo habt Ihr es gefunden? Auf diesem Papier? Oder an eine Wand gemalt?«
»Es war …« Sandro zögerte. »Das ist eine heikle Sache, ich weiß nicht, ob ich Euch jetzt davon ….«
»Wo?«, unterbrach Antonia ihn.
»Man fand es auf dem Rücken des Bischofs.«
Antonia trank einen Schluck Wasser und rieb sich den Hals, der noch immer schmerzte. »Ich verstehe«, flüsterte sie. »Nun, man könnte den Schild tatsächlich als eine Kriegserklärung ansehen. Andererseits ist ein Schild keine Angriffswaffe, man verteidigt sich damit, wehrt Schläge ab.«
»Also Widerstand?«
»Rache oder Widerstand«, sagte sie. »Da ist aber noch etwas anderes: Schilde sind der traditionelle Rahmen von Wappen. So wie man einen Bilderrahmen um ein Gemälde zieht, so zieht man einen Schild um ein Wappen. Das Wappen selbst wiederum verkörpert die Ehre einer Familie oder einer Zunft.«
»Aber dieser Schild trägt kein Wappen.«
»Darauf will ich hinaus. Das Fehlen eines Wappens könnte darauf hindeuten, dass der Täter seine Ehre verloren hat.«
Ein langes Schweigen folgte. Sandro lief, den Blick nach innen gerichtet, ein paar Schritte durch das Atelier. Antonia beobachtete ihn dabei, wie er sich das schlecht rasierte Kinn rieb, wie seine Hände sich kurz in die Haare vergruben, wie er nachdenklich auf das Papier starrte. Erst jetzt fiel ihr auf, worin das Vertraute, das sie bei ihrer ersten Begegnung an ihm bemerkt hatte, bestand. Wenn er nachdenklich war, hatte Sandro eine entfernte Ähnlichkeit mit Matthias. Natürlich war er ein ganz anderer Typus: die schmalen Augenbrauen, der beim Nachdenken leicht geöffnete Mund, die dunklen, italienischen Augen – das alles hatte nichts mit Matthias zu tun. Doch die in Falten gelegte Stirn und der vornehme Ernst erinnerten Antonia stark an ihren Jugendfreund.
Plötzlich entstand in der Gasse vor dem Palazzo Rosato ein Tumult. Das aufgeregte Rufen und Wispern etlicher Menschen drang bis ins Atelier hinauf, und ihre vorübereilenden Schritte kündigten irgendeine Sensation an.
»Vermutlich trifft Kardinal Innocento del Monte
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