Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
nicht, doch der erste Faden war gefunden. Wenn man wüsste, wer nach Einbruch der Dunkelheit bei Bertani war, wäre das der erste wichtige Anhaltspunkt bei dieser Ermittlung.
»Wo ist der Zeuge jetzt?«
»Er wartet in den Räumen der Stadtwache, Bruder Carissimi, gleich neben Eurem Amtsraum. Ich wollte Euch gerade den Dolch in den Amtsraum bringen, da hörte ich, wie der Mann bei der Wache vorsprach. Bruno Bolco, heißt er. Bestimmt ist schon jemand unterwegs, um Euch zu benachrichtigen, aber ich wollte schneller sein.«
Sandro fuhr dem Jungen durch die unfrisierten Haare. »Nicht nur klüger als andere, sondern auch schneller, wie? Eine ordentliche Leistung, wenn man bedenkt, dass du nicht gerade schnell aussiehst.«
»Ich mag es nicht, wenn man mir in die Haare greift«, sagte Aaron, »denn schließlich bin ich kein Schaf. Und Anspielungen auf meine Figur mag ich auch nicht.«
Sandro lächelte. »Lass uns gehen, es gibt viel zu tun.«
Sandro wandte sich bereits zum Gehen, da fiel ihm ein, dass er beinahe etwas vergessen hätte: »Auf Wiedersehen, Luis.«
Luis hatte die ganze Zeit über seinen Büchern gesessen.
»Gott sei mit dir«, sagte er, ohne aufzublicken.
Erst als Sandro gegangen war, hob Luis den Kopf, setzte das Leseglas ab und schob das Buch von sich. Er würde heute nicht mehr an seiner Rede arbeiten, denn dafür müsste er sich konzentrieren. Doch nach dem, was er mitgekriegt hatte, war das nicht mehr möglich.
Wie ein junges Mädchen freute Antonia sich auf das Essen bei Matthias und verwendete Sorgfalt auf ihr Äußeres, dem sie sonst wenig Beachtung schenkte. Auch ging sie viel zu früh los, zum einen, um ihrem Vater nicht zu begegnen – er sollte nicht sehen, welchen Aufwand sie wegen dieses Essens trieb -, und zum anderen, um Carlotta nicht zu begegnen. Es wäre Antonia schwergefallen, Carlotta nicht auf die geheimnisvolle und gefährliche Frau in ihrem Zimmer anzusprechen, doch dies heute Abend zu tun, dafür war Antonia nicht in der Stimmung. Sie war zu aufgeregt wegen der Verabredung. Matthias war nun einmal ein besonderer Mensch in ihrem Leben, damals wie heute.
Als sie an der Santa Maria Maggiore vorbeikam, stellte sie fest, dass noch genug Zeit war, ging hinein, setzte sich auf den kalten Steinboden und ließ die Stille des Kirchenraums auf sich wirken. Immer – und nur dann – wenn sie in einer Kathedrale oder großen Kirche war, wurde Antonia zur Katholikin. Jenseits der Pforten, in der Welt da draußen, machte sie sich um Religion wenig Gedanken. Sie wusste, dass es Gott gab, so wie sie wusste, dass sie eines Tages würde sterben müssen – aber dieses Wissen trug sie nicht ständig mit sich herum. Es war nur eine Ahnung, ein entfernter Gedanke. Die Glasmalerei war eine Dienerin der Römischen Kirche, und der Glasmalerei hatte Antonia sich verschrieben, also hatte sie sich der Römischen Kirche verschrieben.
So wie Matthias der Lutherischen Kirche. Hier drinnen wurde sie wieder daran erinnert, dass er gegangen war. Matthias hatte sich verändert, immerhin war er an den Verhandlungen zur Einheit der Kirche beteiligt, aber hatte er sich wirklich vollständig von dem Vermächtnis seines Vaters Berthold gelöst? Manches deutete darauf hin, doch Antonia konnte sich dessen – sie hatte ihn nur kurz gesprochen – noch nicht sicher sein.
War das überhaupt wichtig? Sie begehrte ihn. Sie wollte ihn haben seit ihrem dreizehnten, vierzehnten Lebensjahr, ja, vielleicht war sie in all den Jahren nur ihm nachgejagt, wenn sie mit Männern schlief. Dutzende, Hunderte von Nächten, von vergessenen Liebhabern, wegen einem einzigen, dem ersten, den sie nicht hatte bekommen können. Bis heute. Heute würde sie an seinem Tisch sitzen, seinen Wein trinken, das Blau seiner Augen sehen. Ihr ganzer Körper regte sich, wenn sie daran dachte, dass sie Matthias ausziehen würde.
Sie betete so gut wie nie, jedenfalls nicht im üblichen Sinn. Sie war nicht in die Santa Maria Maggiore gekommen, um auf die Knie zu fallen und die Hände nach oben zu strecken, aber auf eine gewisse Art suchte sie dennoch den Beistand des Himmels. Hier, inmitten der Kirchenfenster, fühlte sie sich aufgehoben wie in einem tröstlichen, Kraft gebenden Gebet. Jetzt am Abend glommen die Scheiben der Santa Maria Maggiore schwach wie sterbende Wesen; manche Figuren waren verblasst, andere in der Mitte gesprungen, wieder andere wohl von Anfang an von einer mangelhaften Kunstfertigkeit gewesen, steif, verkrampft, manche
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