Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
denn er fürchtete sich vor sich selbst, vor seinem Hang zur Gewalttätigkeit. Die Macht war eine Waffe, deren Gebrauch erlernt sein wollte. Sandro beherrschte den Umgang mit dieser Waffe nicht.
Und nun saß er doch auf der wichtigen Seite des Tisches, dort, wo die Macht saß. Auf den ersten Blick schien das wenig bedenklich. Er befand sich in einem kahlen, düsteren Raum mit einem wurmstichigen Tisch, und er musste froh sein, einen Zinnbecher mit heißem Süßholztee in der Hand zu halten. Doch die Macht ließ sich nicht immer an kostbaren Attributen ablesen. Es gab Inquisitoren, die die meiste Zeit in feuchten, stinkenden Kerkern zubrachten und sich von Brot und Milch ernährten, und doch waren sie Herren über Gut und Böse, Leben und Tod. Für unzählige Menschen waren sie das Schicksal in Person, nahmen Gottes Platz ein.
Bisher hatte Sandro keine schwerwiegenden Entscheidungen treffen müssen, aber er wusste, dass das vermutlich nicht so bleiben würde. Er ahnte irgendein Unheil. Er ahnte, dass er aus dem Gleichgewicht geraten würde. Sein Amt machte ihm zu schaffen, der Mord an Bertani machte ihm zu schaffen, der Dolch vom Domplatz machte ihm zu schaffen, die Anwesenheit von Matthias machte ihm zu schaffen. Und dann war da noch … Er schüttelte den Kopf, so als schüttele er einen Traum ab, der nicht wahr werden durfte.
Bruno Bolco war ein rotnasiger Mann von etwa fünfzig Jahren, dessen gelbliche, glasige Augen verrieten, dass er, wenn er so weitertrank, nicht mehr lange leben würde. In den Händen trug er eine Wollkappe, die er wie einen Brotteig knetete. Seine Knie zitterten – nicht nur aus Nervosität, wie Sandro ihm ansah.
»Bitte setz dich«, sagte Sandro. »Möchtest du Tee? Er ist noch warm.«
Die Bitte erfüllte der Mann, den Tee rührte er jedoch nicht an.
»Ihr müsst wissen, ehrwürdiger Vater, dass ich zuerst nicht kommen wollte. Ich habe jemanden gesehen, gut, das muss nichts heißen.«
»Schließlich hast du dich anders entschlossen, sonst wärst du nicht hier.«
»Ja, natürlich, ehrwürdiger Vater. Ich rechne mit einer … Ihr wisst schon.«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Mit einer Belohnung, ehrwürdiger Vater.«
Sandro trank einen Schluck, das Gebräu schmeckte ungewohnt, aber gut. »Nun, das wird im Ermessen Seiner Gnaden, des Fürstbischofs, und Seiner Heiligkeit, Papst Julius’, liegen.«
»Das kann Monate dauern, ehrwürdiger Vater. Ich hoffe auf eine nicht große, dafür aber schnelle Belohnung Eurerseits. Nicht viel, wie gesagt, wirklich nicht viel. Ich muss nur rasch etwas Geld bekommen. Möglichst heute noch.«
Das fing ja gut an. Wie zuverlässig war ein Zeuge, der dringend Geld brauchte! Und was er mit diesem Geld anfangen würde, war auch nicht schwer zu erraten.
»Bevor ich nicht weiß, wen du gesehen hast, kann ich dich nicht bezahlen, so viel steht fest.«
»Aber Vater …«
»Nenne mir den Namen.«
»Den Namen? Woher soll ich wissen, wie der Mann heißt? Ich habe ihn vorher noch nie gesehen.«
»Ein Mann also, das ist doch schon etwas. Wie sah er aus?«
»Er trug einen Mantel mit Kapuze.«
»War er Geistlicher?«
»Habe ich nicht erkannt.«
»Wobei hast du ihn beobachtet?«
»Er ging in das Quartier des Bischofs, als ich dort vorbeilief. Ich dachte mir gleich, dass etwas nicht stimmte.«
»Wieso?«
»Es war spät, sehr spät, mitten in der Nacht. Wieso betritt jemand zu dieser Stunde das Quartier eines Bischofs? Außerdem huschte er.«
»Erkläre mir das.«
»Na ja, er gab sich große Mühe, sein Gesicht zu verbergen, ging gebeugt, duckte sich …«
»Aber du hast es gesehen, das Gesicht des Fremden?«
»Ja, kurz.«
»Es war doch dunkel.«
»Im Mondschein nicht.«
»Beschreibe ihn mir.«
»Ich würde ihn Euch lieber zeigen.«
»Kannst du zeichnen?«
»Noch nie gemacht.«
Sandro seufzte. So kam er nicht weiter. Bruno Bolco war nicht gerade der Traum eines Untersuchungsbeamten: ein Trinker in Geldnöten, linkisch, plump, wenig überzeugend. Was sollte er mit so einem anfangen?
»Hattest du an dem Abend getrunken?«
Der Mann senkte den Kopf und drückte die Kappe zusammen, als wolle er Saft aus ihr pressen. Wie ein kleines Kind schüttelte er den Kopf. »Nein, ehrwürdiger Vater. Seit drei Tagen … Niemand gibt mir Bier oder Wein, nicht einmal der Cigno.
»Cigno?«
»Der Schwan, meine Stammschänke gegenüber dem Gerichtsgebäude. Das billigste Bier der Stadt. Woanders versuche ich es schon gar nicht mehr.«
»So so, und da du dir
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