Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
pathetisch, andere leblos. Trotz alledem: Antonia war hier umgeben von Glasmalerei, was bedeutete, dass sie Gott am nächsten war. Näher als bei der Arbeit kam sie ihm nie. Die Figuren, die, immer wenn sie eine Kirche betrat, gedanklich in ihr entstanden, schwebten gleichsam durch die Apsis wie Engel und suchten sich den für sie idealen Platz in den Fenstern. Sie war umschlossen von Gestalten ihrer Fantasie, umschlossen von erlöschenden Farben, vom Blau, Rot, Violett, Grün, die sie in eine versöhnliche, tröstliche Stimmung versetzten, die Stimmung eines leisen Herbstabends mit Kindern, mit einem glimmenden Feuer, mit alten Mythen, die ebenso dämmerten wie das Licht. Ein sanfter Rausch wie nach einem Becher Wein erfasste sie. Sie bog den Kopf weit in den Nacken zurück, atmete hörbar durch den Mund und versuchte, den Augenblick festzuhalten. Ein bisschen Glück berührte sie.
Als jede Farbe aus dem Kirchenraum geschwunden und der Altar nur noch ein schwarzer Schatten war, lösten die fantastischen Figuren sich vor Antonias geistigem Auge auf, und Gott entfernte sich wieder. Er ließ sie so ratlos zurück wie zuvor, ja, er hatte sie sogar noch stärker verunsichert. Denn plötzlich wich ihre Freude, Matthias wiederzusehen, einer großen Nervosität. Sie fühlte sich wie an einem Tag, von dem man nicht wusste, ob er das eigene Leben auf den Kopf stellen würde.
Sandros Amtsraum war ein Zimmer im Palazzo Pretorio, der Stadtkommandantur, gleich neben dem Dom. Das einzige Fenster führte jedoch nicht nach vorn zum Domplatz hinaus, so dass nur morgens Sonnenlicht ins Zimmer fiel. Es gab einen Tisch, der Heimstätte vieler Holzwürmer war, sowie ein Pult, drei Stühle und ein Kruzifix an der Wand. In zwei Ecken des Zimmers hielt eine Lage Stroh die Feuchtigkeit davon ab, die Wände hinaufzusteigen, und in einer dritten Ecke standen Tonbecher und ein Krug. Das also war die Residenz des Visitators, des Mannes, der allein dem Papst unterstand und einen Mord aufklären sollte.
Aaron balancierte ein Tablett mit Geschirr aus falschem Silber vor sich her, und er brachte einen Duft von Süßholz und Minze mit.
»Den Tee habe ich uns aus Trockenkräutern meines Onkels gemacht«, erklärte Aaron.
»Und das Geschirr? Immerhin Zinn.«
»Es gehört Forli, dem Hauptmann der Wache. Ich habe es aus der Küche genommen, mitsamt dem heißen Wasser, das dort brodelte.«
»Aaron!«
»Was ist? Ihr solltet nicht aus Tonbechern trinken, das ist nicht angemessen. Außerdem: Ihr werdet von Eurem Gott fürs Lügen bestraft, aber ich von meinem nicht. Jedenfalls nicht für kleine Lügen. Also was soll’s? Süßholz hilft beim Denken, und wir müssen denken, wenn wir den Mord aufklären wollen.«
» Ich muss denken«, wandte Sandro ein.
»Dann solltet Ihr bald damit anfangen und nicht mit einem jüdischen Jungen über Zinn diskutieren.«
Sandro sah lächelnd dabei zu, wie Aaron zwei Becher dampfenden Tees auf dem Tisch abstellte, sich den dritten Becher sowie einen Stuhl nahm und alles nach draußen stellte.
»Ich schicke Euch jetzt den Zeugen herein. Falls Ihr mich braucht: Ich warte vor der Tür. Es sei denn, Ihr wünscht, dass ich dabei bin, wenn …«
Sandro machte die Hoffnung des Jungen mit einem Kopfschütteln und einem kurzen, aufmunternden Lächeln zunichte. Dann setzte er sich an den Tisch und wartete. Nachdenklich blickte er auf den Stuhl gegenüber. In seinem bisherigen Leben war Sandro es gewesen, der auf jenem Stuhl, auf jener Seite des Tisches gesessen hatte, auf der Seite des Befragten. Und es waren schon viele Tische gewesen: Der der Aufnahmekommission der Jesuiten, die er anlügen musste, um ihr den wahren Grund seiner Berufung zu verbergen; der Tisch seiner Lehrmeister am Kollegium, der der Prüfer, der des Vaters Provinzial … Den Ehrgeiz, eines Tages ihren Platz einzunehmen, hatte er im Gegensatz zu vielen Mitbrüdern nie besessen. Er war nicht Jesuit geworden, um Karriere zu machen, und auch nicht, um ein unbekümmertes Leben zu führen. Natürlich war er bestrebt zu lernen, was man ihm zu lernen aufgab, und natürlich wollte er seine Arbeit für Luis bravourös erledigen, doch nicht, um sich Lorbeeren zu verdienen, sondern nur, um das Gefühl zu haben, das Richtige zu tun. Er war Jesuit geworden, weil er eine Schuld abzutragen hatte, eine entsetzliche Schuld, die man nur durch ein Leben in Hingabe und Demut abtragen konnte. Jede Form von Macht – eigener Macht – erschreckte ihn, er fürchtete sie,
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