Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
dem Fenster der letzten Nacht.
Die Schlaufen an ihrem Kleid waren Antonia noch nie so zahlreich vorgekommen wie jetzt. Hinten, vorn, oben, unten, es nahm kein Ende. Still fluchte sie vor sich hin.
Und Inés starrte ins Leere.
Ein weiterer Blick ins Atelier. Sandro stand vor dem verhüllten Engel. Zögerlich streckte er seine Hand nach dem Tuch aus, ließ sie dann aber, kurz bevor seine Fingerspitzen den Stoff berührten, wieder sinken.
Antonia verhedderte sich in zwei Schnüren an ihrem unteren Rücken.
Sandro streckte erneut die Hand aus.
Antonia eilte ins Atelier. »Bitte nicht berühren«, rief sie.
In diesem Augenblick fiel das Tuch zu Boden.
Die beiden Kerzen erloschen im Luftzug, und der feine Rauch, den ihre Dochte ausstießen, stieg zwischen Sandro und Antonia in die Höhe, wo er sich langsam verlor. Es war Tag. Das Sonnenlicht reflektierte sich in Fenstern, an Häuserwänden, und brach von allen Seiten in das Atelier ein. Der Engel und das Mädchen glühten in diesem Widerschein. Sandro und Antonia standen sich, beschienen vom Rot und Blau des Fensters, gegenüber. Seine Augen waren keine schwarzen Hüllen mehr, sie verbargen nichts. Alles Zögernde, alles Zurückhaltende war aus diesen Augen verschwunden, und Antonia bekam eine Ahnung davon, wie Sandro als Liebhaber sein würde. Er würde ein bisschen sein wie der Engel, zärtlich und sanft und zielstrebig, und ein bisschen wie ein Schurke, eingebildet, von sich überzeugt, alle Kniffe der Verführung kenntnisreich einsetzend.
Nach langem Schweigen sagte er: »Brechen wir auf?«
Er ging voraus, langsam und zielstrebig, ohne sich umzuwenden, und er war sich die ganze Zeit über bewusst, dass ihr Blick auf seinem Rücken ruhte.
Die Verhaftung war für Carlotta völlig überraschend gekommen. Noch hatte sie ja nichts getan, und Gedanken konnte niemand lesen. Natürlich war ihr bekannt gewesen, dass alle, die in der Nacht seiner Ermordung bei Bertani gewesen waren, in Verdacht standen. Deshalb hatte sie in den letzten Tagen ja auch geschwiegen und sogar Antonia angelogen, als sie bestritt, Bertani zu kennen. Sie mit dem Tod des Bischofs in Verbindung zu bringen, hätte ihre Pläne bezüglich Innocento empfindlich gestört. Und so war es ja nun auch gekommen. Wenn kein Wunder geschähe, war ihre Rache gescheitert. Giovanni del Monte war wieder einmal davongekommen, und die bittere Ironie daran war, dass sein direkter Beauftragter, der Visitator, ohne es zu wissen ein Verbrechen verhinderte, das erst noch verübt werden sollte, während er sie eines Verbrechens verdächtigte, das sie gar nicht begangen hatte.
Die Erkenntnis von der gescheiterten Rache, von einem lachenden Papst, lähmte sie vom Moment ihrer Verhaftung an. Bertani interessierte sie nicht im Geringsten. Sie konnte nur daran denken, dass sie heute Abend nicht, wie sie es geplant hatte, in den Palazzo Innocentos eindringen und den Sohn des Papstes töten würde. Das Übrige war ihr gleichgültig. Es spielte sich nicht in ihrer Welt ab, es war unwichtig. Pietros Tod war wichtig. Lauras Tod war alles.
Darum beantwortete sie die Fragen des jungen Visitators mit Schweigen. Sie war müde, unendlich müde. Jetzt, wo sie ihr Ziel nicht mehr erreichen konnte, kam es ihr vor, als zerberste der Behälter, in dem sie gesteckt hatte, und sie zerfließe. Ihre Glieder wurden schlaff, und sie hielt ihre Augen entweder geschlossen oder nur leicht geöffnet. Sie verlor das Zeitgefühl, wusste bald nicht mehr, wie lange sie schon in der Zelle saß.
Als Antonia kam, lächelte sie. Von Hieronymus hätte sie nicht gewollt, dass er sie hier sieht, in diesem Zustand, in dieser Umgebung. Der Visitator hatte ihr zwar die geräumigste, sauberste und hellste Zelle des ganzen Gefängnisses gegeben, aber Kerker blieb Kerker. Sie musste in einen Haufen Stroh pinkeln und koten, so als wäre sie ein Schwein, und ihre Hände und Füße waren mittlerweile schwarz vom Schmutz an den Mauern und auf dem Boden. Hieronymus hätte bei ihrem Anblick gelitten, und das wiederum hätte sie leiden lassen. Antonia war eine Freundin, eine Frau, der einzige Mensch, mit dem sie jetzt noch reden konnte. Von allen Menschen war ihr tatsächlich nur noch sie geblieben.
Der Visitator war bei ihr. Carlotta hatte im Laufe der Jahre einen Sinn für Erregung entwickelt, und sie spürte sofort, dass irgendeine seltsame Spannung die beiden wie eine Aura umgab.
Carlotta und Antonia umarmten sich. »Danke, dass du gekommen bist«, sagte
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