Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
Carlotta. Ihre Stimme klang dumpf in dieser Kerkerzelle, die jeden Laut schluckte. Wie viele Worte waren wohl von diesen Mauern ungehört verschluckt worden?
»Wie geht es dir?«, fragte Antonia.
»Meine Sorge gilt nicht mehr mir, sondern nur noch Inés. Sie braucht ein Zuhause, braucht liebende Menschen. Kümmert ihr euch um sie?«
»Aber ja, es geht ihr gut. Sie hat sogar einmal gelächelt.«
Carlotta staunte. »Gelächelt? Das macht sie nie. Wie kam das?«
Antonia warf dem Visitator einen anerkennenden Blick zu. »Später, Carlotta. Jetzt sag mir, wie man dich behandelt.«
»Unterschiedlich. Die einen behandeln mich wie eine Hexe, die anderen wie eine gemeine Mörderin, und wieder andere wie eine Frau, die man leicht haben kann.« Sie warf einen Seitenblick auf den Visitator. »Er ist eine Ausnahme, er behandelt mich ›nur‹ wie eine Verdächtige.«
»Ihr seid verdächtig, Carlotta da Rimini«, wandte er ein.
»Bin ich das? Bloß weil ich bei Bertani war?«
Der Visitator sah sie mit Genugtuung an, und sie merkte, dass sie soeben ein erstes Geständnis abgelegt hatte.
»Ihr werdet mir nicht glauben«, prophezeite sie.
»Ihr habt nichts zu verlieren«, entgegnete er. »Ich habe Euch Antonia geholt, wie Ihr es wünschtet. Nun seid Ihr an der Reihe.«
Carlotta atmete tief durch und lehnte sich gegen die Mauer. Von dieser Stelle aus konnte man durch das unter der Decke gelegene Gitterfenster die Spitze des Doms sehen, die an diesem Morgen von gleißender Sonne eingehüllt wurde.
»Bertani hatte von mir gehört«, sagte Carlotta, beinahe flüsternd und ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Es fiel ihr schwer, sich auf diesen toten Mann zu konzentrieren und über ihn zu berichten. Widerstrebend, so als müsse man eine tausendmal erzählte Geschichte noch einmal erzählen, fuhr sie fort: »Irgendjemand hat ihm erzählt, was für eine geschickte Hure ich bin, wie willig und doch klug, nicht eine von denen, die keinen geraden Satz zustande bringen und für die Dante nur der Name eines Offiziers ist, mit dem sie es mal getrieben haben.«
»Mir war nicht klar, dass das wichtig für die Herren ist«, sagte Antonia.
»Die Befriedigung, einen klugen Menschen zu beherrschen, ist größer, als einen dummen Menschen zu beherrschen. Und darum ging es Bertani: um Macht, um Gewalt, um seinen verfallenden Körper, der einen gesunden Körper peinigen wollte. Alle Huren wussten über ihn Bescheid. Weiter also: Bertani hatte erfahren, dass ich in der Stadt war und wo man mich finden konnte. Er schickte jemanden vorbei, der mir seine Aufforderung überbrachte.«
»Wieso seid Ihr darauf eingegangen?«, fragte der Visitator. »Da Ihr offenbar wusstet, dass Bischof Bertani eine gewalttätige Natur hatte, hättet Ihr seine Aufforderung ablehnen können.«
Diese Frage war heikel. Wenn sie erzählen würde, dass sie nur deswegen zu Bertani gegangen war, weil sie sich einen Passierschein verschaffen wollte, musste sie auch erklären, wozu sie diesen Passierschein brauchte.
»Solche Besuche sind mein Beruf«, wich sie aus. »Erdulden ist mein Schicksal. Als ich ankam, waren alle Diener weg – zumindest bin ich keinem begegnet. Bertani und ich waren ungefähr drei Stunden miteinander beschäftigt, nur unterbrochen von einem Besucher, den ich nicht gesehen habe, der aber anscheinend mich gesehen hat.«
»Er hat Euch geschlagen?«, fragte der Visitator. Sie mochte sich täuschen, aber sie meinte, Mitleid in seiner Stimme zu hören. Von einem Geistlichen hatte sie noch nie Mitleid erfahren.
»Ja«, antwortete sie und strich mit ihrem Finger die gekrümmte Linie der fast verheilten Wunde entlang. »Ja, er schlug mich. Er genoss es, so wie andere Kuchen genießen. Er kam auf die absurdesten Ideen, die mir jedoch in diesem Moment überhaupt nicht absurd vorkamen. Ich bin nicht bis zum Morgengrauen geblieben. Auch das ist üblich. Die meisten Prälaten wünschen nicht, von ihren Dienern mit Frauen gesehen zu werden. Das gibt nur Gerede. Also setzen sie uns auf die Straße, nachdem sie das bekommen haben, was sie wollten. Eine ganze Nacht im warmen Bett gibt es für Konkubinen selten. So war es auch in der Nacht vom achten auf den neunten Oktober. Bertani warf mich hinaus. Ich weiß nicht, wie spät es war, aber gewiss weit nach Mitternacht. Er hat mich bezahlt, und das war’s.«
»Und der Mann, der die Liebesnacht unterbrochen hat?« Er korrigierte sich, weil er den Zynismus dieses Wortes erkannte. »Verzeiht. Der Mann, der in
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