Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
und wankte zum Schreibtisch, wo er in einem Wust von Papieren wühlte.
»Hier haben wir ein Pergament, ein besonders schönes. Und hier ist Tinte. Feder, Feder, wo ist die … Ah, da ist sie. Was schreiben wir? Mein lieber, heiliger Vater. Nein. An Seine Heiligkeit, meinen Papa.«
Sandro trat hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ihr solltet Euch hinlegen, Eminenz. Der Brief kann bis morgen warten.«
»Nein, nein. Und nenne mich nicht Eminenz, nenne mich Innocento. Ich will kein Kardinal sein, Sandro, ich will einfach nur, dass man mich nicht verachtet, dass man … dass man mich …«
Sein Kopf sank auf die Tischplatte, die Augen schlossen sich. »Ich will einfach nur ein Mensch sein und so behandelt werden«, murmelte er, »ein Junge, nicht gut, nicht schlecht. Ich will keine Witzfigur sein. Wo sind die Farnese, ich bringe sie um. Wo sind die schmutzigen Gassen? Boccaccio? Wo sind wir, Boccaccio? Haben wir uns verlaufen? Wir haben uns verlaufen, Boccaccio. Gina, halte mich. Wo bist du, Gina? Ich liebe dich. Und Mama, wo ist Mama? Mama ist tot. Ich habe nur noch dich, Gina, dich und Boccacio. Ich brauche dich, Gina. Ich will dich bei mir haben.«
Er griff, fast schon bewusstlos, nach dem Brief einer Frau und versuchte, ihn zu umklammern. Doch seine Faust erschlaffte. Sein Gemurmel wurde undeutlich, wurde leiser, und schließlich verstummte es vollends.
Sandro stieß einen langen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Zuerst Bruno, dann Inés, jetzt Innocento. Die Welt war voll von Unglück. Im Spital von Neapel hatte er es gesehen, jeden Tag, jede Stunde, ein noch viel größeres Unglück als dieses hier. Die Menschen hatten eiternde Wunden an Körper und Seele, sie siechten dahin. Während die Kaufleute eine größer gewordene Welt feierten, während Dichter eine freiere Zeit proklamierten, Schneider raffinierte Moden entwarfen, Musiker übermütige Tänze spielten und Architekten breitere Straßen für die vielen Kutschen bauten, irrten verwaiste, verstoßene, verwahrloste Kinder durch die Gassen der Armenviertel und brachen entkräftete Menschen in schmutzigen Rinnsalen zusammen.
Es war eine ungerechte, feindliche Welt, in der gewaltige Chöre von Elenden um Hilfe schrien. Sandro war Jesuit geworden und nicht Dominikaner oder Zisterzienser, weil die Jesuiten die Bildung und die Fürsorge für die Armen in die Welt trugen. Er wollte etwas Nützliches tun, er wollte Herzen erheitern und ein ganz klein wenig Licht in die sterbenden Seelen bringen. In den geräuschlosen Skriptorien, in denen er für Luis gearbeitet hatte, hatte er fast vergessen, dass es noch immer Elend gab. Als er vorhin Inés begegnet war, war das Verlangen der Novizentage in ihm wiedererweckt worden.
Er hob Innocentos Kopf von der Tischplatte und entwand ihm mühsam den Brief, geschrieben mit der Schrift eines Mädchens; seine Antwort lag daneben, und als Sandro sie las, bekam er Sehnsucht danach, selbst einmal einen solchen Brief schreiben zu dürfen.
Gina, ich vermisse deine Haare, die mich kitzeln. Ich vermisse deine Stimme, die Stimme verletzter Vögel. Ich vermisse deine Hand auf meinem Rücken, vermisse das morgendliche Glück auf unseren Gesichtern, vermisse den Anblick von dir im Garten neben dem Brunnen, vermisse den ernsten Blick, wenn du mir einen Rat gibst, ja, ich vermisse sogar deine Tränen über unser Unglück. Ich weiß, du denkst jeden Tag viele Male an mich, so wie ich fast nur an dich denke.
Sandro bemerkte Papierfetzen, die verstreut herumlagen, und glaubte, es wären Entwürfe von Briefen, doch sie stellten sich als Teile der Flugblätter heraus, die Innocento verhöhnten. Langsam bekam er einen Hass auf diese Leute, die einen jungen Mann, der nicht mehr wusste, wo sein Platz war, nicht in Ruhe lassen konnten.
Er trug den Trunkenen in sein Bett. Innocento war leicht, ein Federgewicht, und dadurch wurde Sandro es noch einmal deutlich, wie jung, ja, knabenhaft der Sohn des Papstes war – und dennoch schon so unglücklich. Vielleicht brauchte dieser Junge hier einen Freund, nicht einen Trinkkameraden, einen wirklichen Freund. So hatte Innocento ihn mehrmals gerufen: Freund. Und Sandro fühlte sich schon wie einer.
An den Brief, den Innocento für ihn schreiben sollte, dachte Sandro fast gar nicht mehr, als plötzlich ein Diener hereinkam, just in dem Moment, als Sandro den Betrunkenen zudeckte. Als er Sandro sah, blieb er kurz stehen und verneigte sich. Dann berührte er Innocento an der Schulter.
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