Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
»Herr«, sagte er und rüttelte leicht an ihm.
»Er schläft.« Sandro machte eine kleine Geste mit der Hand zum leeren Weinkrug.
»Verstehe«, sagte der Diener im Tonfall eines Gerichtsschreibers, der zum hundertsten Mal dieselbe Aussage protokollierte. »Da kann man nichts machen. Gut, dass Ihr hier seid, ehrwürdiger Vater.«
»Ich habe nicht viel getan. Ein wenig zugehört. Ihn ins Bett getragen. Das war alles.«
»So meinte ich das nicht, ehrwürdiger Vater. Eigentlich wollte ich nur den Kardinal informieren, aber nun, wo Ihr hier seid … Euch betrifft es weit mehr.«
»Wovon sprichst du?«
»Es hat eine Verhaftung gegeben. Die Stadtwache hat jene Konkubine verhaftet, die den Bischof Bertani ermordet hat.«
Vierter Teil
13
12. Oktober 1551,
der zweite Tag des Konzils
A ntonia stand fast nackt vor der Glasfigur. Da die Nacht kalt im Raum lag, hatte sie sich das Leintuch von ihrem Bett über die Schultern geworfen, doch es ließ einige Stellen des Körpers unbedeckt, an denen sich Gänsehaut bildete. Vor ihr leuchtete ein Engel im milden Licht zweier Kerzen, die sie hinter dem Gestell angezündet hatte, sowie dem Kaminfeuer. Sie liebte Engel, weil sie kapriziöse Wesen waren, denen alles zuzutrauen war. Sie waren nicht so berechenbar wie
Heilige. Der namenlose Engel war noch nackter als sie. Lediglich um die Hüfte trug er ein enges Tuch, das aussah, als habe er es sich gerade eben notdürftig um den Schambereich gewickelt. Er hatte einen jungen, schönen, vor allem sehr leichten Körper, einen Körper, wie sie ihn nicht kannte, denn ihre Steinmetze und Bildhauer und Soldaten waren allesamt muskulös gewesen. Auch Matthias war muskulös. Dieser Engel nicht, er hatte etwas Sanftes.
Antonia tauchte den Pinsel ins Schwarzlot und blickte konzentriert auf die Stelle, wo das Gesicht des Engels im Entstehen war. Das war immer ein besonderer Moment, denn erst das Gesicht brachte die Figur zum Leben, es prägte den Charakter, das unverwechselbar Individuelle des Geschöpfs. Sie hatte im Laufe der Jahre tausende von Gesichtern auf Glas gebannt. Bei manchen war es ergreifend gewesen, sie zu erschaffen, bei anderen hatte sie sich überwinden müssen. Mit diesem Engel jedoch war es etwas anderes. Als sie ihm das Gesicht gab, war sie weder ergriffen noch amüsiert, und dennoch ließ es sie nicht kalt. Im Gegenteil. Vielleicht hatte sie noch nie derart intensiv an einer Figur gearbeitet.
Als sie den Pinsel ablegte, blickte sie in Sandros Augen. Und das Mädchen neben ihm trug ihre, Antonias, Züge. Das Mädchen berührte ihn mit der linken Hand an der Wange, ihre rechte Hand ruhte auf seiner Brust, dort, wo das Herz schlug. In diesem Bild gab es kein Entsetzen, keine Panik, keinen Untergang, sondern nur Stille. Er hatte dem Mädchen die Angst genommen.
Es gab in dieser Nacht keinen Matthias, keine Inés, keinen Gott, niemanden, der zwischen ihnen gestanden hätte. Es gab Antonia und Sandro. Der Rest der Welt existierte nicht. Das Fenster war ihr Glas gewordenes Tagebuch, und es war das Einzige, das nur in der Nacht lebendig sein durfte, jenseits des Lichts. Es war nicht für die Welt gemacht, ihre Gefühle für Sandro waren nicht für die Welt gemacht. Der gläserne Sandro würde nie in die Santa Maria Maggiore gehängt werden, auch nicht in eine andere Kirche, und was immer zwischen ihnen wäre, war ebenso wenig etwas für die Augen anderer.
Als sie fertig war und der Morgen dämmerte, fühlte sie sich erschöpft und gestärkt zugleich. Ihr Körper wollte Schlaf, ihr Geist war noch euphorisch, halb im Rausch, und wehrte sich gegen die Nüchternheit des Morgens. Schließlich begriff sie, dass Sandro, der Engel, wieder aus dem Weg geschafft werden musste. Eingewickelt in ein Tuch würde er verschwinden. In einer Truhe vielleicht? Im Bettkasten? Ein bisschen war es so, als würde man einen Platz für eine Leiche suchen.
Es klopfte, ein zögerliches Klopfen. Antonias Vater würde in seinem Nebenzimmer nicht davon aufwachen. Und hätte sie in ihrem Zimmer geschlafen, hätte auch sie das Klopfen nicht gehört. Ohne dass sich die Lautstärke erhöhte, pochte es zunächst dreimal, dann viermal, schließlich sechsmal. Jemand war zu höflich, um laut zu werden, und zu beharrlich, um zu gehen.
Eilig warf sie das Tuch, das ihren Körper umhüllte, über das Gestell mit dem Engel. Nun war zwar die Figur verdeckt, sie selbst allerdings stand völlig nackt im Raum, was wenig besser war.
Es klopfte viermal.
Sie huschte
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