Die Glasmalerin - Walz, E: Glasmalerin
vom Atelier in ihr Zimmer. Dort schlief Inés noch immer einen unruhigen Schlaf. Der Körper des Mädchens krümmte und streckte sich, warf sich zur Seite, richtete sich kurz auf, um wie tot in sich zusammenzufallen. So war das schon vorhin gegangen, und Antonia, die von diesem Geflatter eines im Netz gefangenen Vogels neben sich ständig aufgewacht war, hatte sich mitten in der Nacht dazu entschlossen, die Wahrheit in ihr Tagebuch zu schreiben und danach an dieser Wahrheit zu arbeiten, ihr ein Gesicht zu geben. Jetzt musste sie feststellen, dass sich, obgleich Stunden vergangen waren, nichts am Zustand der Schlafenden geändert hatte.
Es klopfte sechsmal. Um sich anzuziehen, blieb keine Zeit. Antonia griff sich einige der Tücher, in die das farbige Rohglas bei der Lieferung eingewickelt gewesen war, und drapierte sie irgendwie um Schulter und Hüfte, so dass sie aussah wie Salome bei ihrem Tanz der Schleier. Sie huschte ins Atelier zurück und öffnete die Tür.
Wie sie vermutet hatte, war er es. Er hatte sich nicht rasiert und sah müde aus. Antonia bat ihn herein, und als er an ihr vorbei das Atelier betrat, zog er eine Spur frischer Nachtluft hinter sich her, die an seiner Kutte haftete. Sandro ging direkt auf das verhüllte Gestell zu, so als ahne er, dass sich sein Ebenbild darunter verbarg, doch kurz davor blieb er stehen und wandte sich zu Antonia um.
»Ihr kommt wegen Carlotta?«, fragte sie, und in diesem Moment leuchteten die Bergspitzen rund um Trient im Licht der aufgehenden Sonne.
Er nickte. »Ihr wart dabei, als sie aufgegriffen wurde, habe ich gehört.«
»Ich war gerade bei Inés, als Carlotta in ihre Kammer zurückkam. Kaum dass ich Gelegenheit hatte, ihr zu sagen, dass sie wegen Bischof Bertani gesucht würde, stürmten die Soldaten der Wache auch schon herein und nahmen sie fest.«
»Eine Frau aus diesem Palazzo hat die Wache alarmiert …«
»Die Krummbeinige. Sie ist noch Stunden danach herumgelaufen und hat so getan, als hätte sie bei der Verhaftung des leibhaftigen Satans mitgewirkt.«
»Wo ist Inés?«
»Sie schläft in meinem Zimmer nebenan. Ich habe sie gestern Abend sofort zu mir genommen, während mein Vater zum Stadtgefängnis gegangen ist und darum gebettelt hat, mit Carlotta sprechen zu dürfen. Dieser bärbeißige Hauptmann hat ihn abgewiesen und jede Auskunft verweigert. Er hatte sich daraufhin vorgenommen, Euch heute aufzusuchen. Das erübrigt sich nun, den Ihr seid dankenswerterweise von allein zu uns gekommen.«
»Weil ich Eure Hilfe brauche. Carlotta da Rimini schweigt. Sie will mir noch nicht einmal sagen, wo sie gestern Nachmittag und Abend war.«
»Vielleicht war sie bei einem – einem …« Sie zögerte, es ihm gegenüber auszusprechen.
»Lasst Euch von meiner Kutte nicht täuschen. Ich war nicht immer ein Mönch. Was das angeht, bin ich ein großer Junge und weiß, was die da Rimini in den Zimmern anderer Leute tut.«
Antonia fand, dass ihm die Müdigkeit gut stand. Sie machte ihn offener, ungenierter.
Sie schob sich so unauffällig wie möglich zwischen Sandro und seinen gläsernen Zwilling, dem er unangenehm nah gekommen war.
»Wenn sie bei einem Kunden war«, sagte er, »sollte sie mir das offen gestehen. Doch sie bestreitet nichts und bestätigt nichts. Dieses Schweigen hilft niemandem. Weder entlastet es sie, noch überführt es sie. Es macht sie einfach nur verdächtig, und das ist das Schlimmste, was ihr passieren kann.«
»Was meint Ihr damit?«
»Das ist jetzt nicht wichtig. Sie hat nach Euch gefragt. Ausdrücklich nach Euch, nicht nach Eurem Vater. Meine Hoffnung ist, dass Ihr es schafft, sie zum Sprechen zu bewegen.«
Antonia musste nicht lange überlegen. »Ich komme sofort. Ich muss mir nur« – sie sah an sich herab – »etwas anderes anziehen.«
Er nickte entschieden. »Das ist das merkwürdigste Nachthemd, das ich je an einer Frau gesehen habe.«
Antonia ging nach nebenan in ihr Zimmer. Inés war mittlerweile aufgewacht und saß auf der Bettkante. Auf Antonias Gegenwart reagierte sie kaum, blickte nur kurz zu ihr auf, um dann jedoch wieder vor sich hin zu starren. Es war höchst eigenartig, dachte Antonia, dass jemand, der in der Nacht derart wild um sich schlug, sich am Tage kaum bewegte.
Antonia hatte die vielen Tücher abgeworfen und war in ihren Unterrock geschlüpft. Nun zog sie sich in aller Eile das Oberkleid über, wobei sie ihre Haare zerzauste.
Sie blickte vorsichtig ins Atelier. Sandro umkreiste das verdeckte Gestell mit
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