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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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und suchte Benni nahe der Stelle, an der er sich zuletzt gezeigt hatte. Ein Teppich aus Brennnesseln wucherte hier. Matt und fast weiß sahen die Blätter aus, wie mit Mehl bestäubt. Die Brennnesseln reichten mir bis zum Bauch, und ich versuchte sie niederzutrampeln. Doch das funktionierte nicht, denn ich trug kurze Hosen und geriet ständig mit der Haut an die Pflanzen. Also suchte ich nach einem Stock, und als ich keinen fand, trat ich einen Ast von einem Haselnussstrunk und schlug damit in die Halme. Nachdem ich mich ein Stück weit hineingearbeitet hatte, gingen die Brennnesseln in Brombeerranken über, und ich kam nicht mehr weiter. Ich holte aus, um den Stock wegzuschleudern, doch dann ließ ich ihn nicht los, sondern schlug weiter auf die Brennnesseln ein, ließ ihn nach links und rechts sausen, wie um mich zu rächen, und sah das Grün wegspritzen.
    Über mir wurde es abwechselnd hell und dunkel, die Wolken rasten fast unter der Sonne und legten große Flecken auf die Wiese. Ich ging neben dem Gestrüpp und den Schienen her, schlug mit dem Stock in die Büsche und rief nach Benni. Dabei hoffte ich, dass niemand mich hörte, denn der Klang meiner eigenen Stimme wurde merkwürdig, sobald es niemanden gab, mit dem ich sprach.
    Schließlich gelangte ich zu einer Schneise im Buschwerk, und ich sah die Unterführung. Ein unbefestigter Feldweg führte aus den Wiesen genau darauf zu, und hier senkte sich der Boden zum Bahndamm hin leicht ab. Von oben sah der Durchgang aus wie ein eckiger Lüftungsschacht aus Beton. Ich stieß den Stock ein paarmal in die Brombeeren, dann ging ich hinunter. Ausgebreitete Kartons und Zeitungen, ein paar Flaschen und verkrustete Klamotten lagen hier unten verstreut. AMIS RAUS AUS NICARAGUA stand an einer Wand.
    Ich fand Benni auf der anderen Seite der Gleise, mit der Schnauze am Rand des Wegs, der sich hier fortsetzte und ins Nirgendwo führte. «Nächstes Mal vielleicht», sagte ich zu Benni. Er schüttelte sich, ließ aber zu, dass ich ihn festhielt und die Leine in seinem Halsband festhakte.
    Ich überlegte, ob es klüger wäre, den Regen hier abzuwarten und mich in der Unterführung unterzustellen. Wie lange es dauern würde, bis die Wolken aufbrachen, und wie lange es überhaupt regnen würde, konnte ich nicht wissen, auch merkte ich, dass es unter den Gleisen nach Urin stank, daher entschied ich mich doch für den Rückweg. Ich lief, bis ich Seitenstechen bekam und die Brücke schon sehen konnte. Über ihr klaffte eine große Lücke zwischen den Wolken, der Himmel hatte ein helles Blau, und ich war sicher, es auf den Platz zu schaffen, ohne nass zu werden.
    Als ich zum Container zurückkam, fand ich einen Zettel neben der Spüle. Meine Mutter schrieb, mein Vater und sie seien zu einem Jahrmarkt in die Stadt gefahren. Außerdem bat sie mich, den Karton auf dem Tisch zu Scholz zu bringen. In dem Karton waren ein großes Brot, mehrere flache Büchsen mit Fisch in Senf- oder Tomatensauce, eine Salami und ein Tetrapack Milch. Ich klemmte ihn unter den Arm und ging zum Wagen mit der Vogelscheuche.
    «Du musst richtig klopfen, nicht die Tür streicheln», sagte Bubi. Er nahm den Karton und stellte ihn hinter sich ab. Aus dem Hintergrund kam Musik, irgendetwas Langsames, Spanisches, mit einer traurigen, weichen Trompete. Eine Frau und ein Mann sangen abwechselnd, und dann fanden ihre Stimmen zusammen. Obwohl ich kein Wort verstand, war ich sicher, dass es ein Liebeslied war.
    «Ist es bei euch auch so heiß drinnen?», fragte er, im Türrahmen stehend.
    «Mindestens», sagte ich.
    «Draußen ist es abends besser», sagte er. «Ich geh eine rauchen, bevor das runterkommt.»
    Er meinte den Regen, der immer noch nicht eingesetzt hatte. Die Wolken standen nach wie vor dunkelgrau und schwer am Himmel über uns, das blaue Loch darin hatte sich geschlossen. Er kam die Stufen herab, steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich an den Wagen.
    «Gibt’s auch eine für mich?», fragte ich, aus einer Laune heraus.
    Bubi schüttelte den Kopf.
    «Dein Vater bringt mich um, wenn er das erfährt. Außerdem haben hier sogar die Ameisen Augen und Ohren.»
    «Also dann», sagte ich und wollte gehen.
    «Warte doch mal», sagte er. «Was machst du denn so den ganzen Tag?»
    «Ich weiß nicht», sagte ich. «Und du?»
    «Buddeln. Graben», sagte er.
    «Was soll das heißen?»
    «Ich hab gesagt: Graben. Also auf Baustellen und so. Ich kenn die Baggerfahrer von den ganzen Baufirmen. Wenn die irgendwo was

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