Die Glücksparade
verheiratet war, denn ich sah jetzt auch einen Ring an seinem Finger, dass er seine Arbeit mochte, seine flache goldene Armbanduhr und sein neues Auto. Da war nichts, was ich nicht sofort begreifen konnte.
Mein Vater nestelte an dem Reißverschluss, fingerte in der Mappe herum, bis er eine kleine, durchsichtige Kartusche herausholte, die aussah wie eine Milchflasche. Er setzte sie dem Mann an den Mund, schob ein paar Finger unter dessen Kinn, drückte es leicht mit dem Daumen nach unten und sprühte ihm etwas in den Rachen. Der Husten klang jetzt, als hätte er sich an etwas verschluckt und würgte daran.
«Alles in Ordnung», sagte mein Vater. «Es ist gleich vorbei. Nur eine allergische Reaktion. Ganz harmlos.»
Er sprach zu uns beiden, zu mir und dem Mann, von dem man glauben konnte, er ersticke. Seine Stimme war ruhig.
«Ich war Rettungssanitäter», sagte er. «Ich werde Sie jetzt an die frische Luft bringen. Wahrscheinlich haben Sie eine Allergie. Draußen ist es besser.»
Er bedeutete mir, zu ihm zu kommen, und ich tat es völlig automatisch. Einen Arm hängte er sich um die Schultern, den anderen legte er mir in den Nacken, so hoben wir ihn vom Stuhl und brachten ihn zwischen uns ins Freie. Seine Füße machten Schritte wie eine Marionette, und daran konnte man merken, dass er mitbekam, was geschah. Vor der Hütte gingen wir in die Knie und senkten den Mann auf das staubige Gras.
Er brauchte nicht viel mehr als eine Minute, um wieder zu Atem zu kommen. Ich hockte neben ihm, und mein Vater brachte ein Glas Wasser, das er gerade abgewaschen haben musste, denn es rannen noch Tropfen daran herunter und über seine Hand. Eine Urlauberfamilie kam vom Parkplatz her und blieb bei uns stehen, die Frau hielt zwei kleine Jungen an den Kapuzen ihrer Pullover fest und fragte, ob wir Hilfe brauchten oder einen Arzt.
«Danke, es geht schon wieder», sagte der Mann und stand auf. Er klopfte seine Hose ab und zwinkerte, als blendete ihn die Sonne.
«Ein Glück, dass wir in der Nähe waren», sagte mein Vater.
«Manchmal braucht man einen Schutzengel», sagte die Frau.
Mein Vater nickte, und die Frau ließ sich von ihren Kindern weiterziehen. Ich hob die Ledermappe auf.
«Haben wir noch etwas zu besprechen?», fragte mein Vater. «Vielleicht wäre es gut, wenn Sie sich noch etwas ausruhen.»
Der andere schüttelte energisch den Kopf. Er nahm mir die Mappe ab und sagte, er müsse dringend los. «Wir hören voneinander», sagte er noch und gab meinem Vater kurz die Hand. Ich schaute ihm nach, wie er unter dem offenen Schlagbaum durch auf sein Auto zuging, hastig, mit seiner Mappe unterm Arm und einem erdgrauen Fleck auf seiner Hose.
«Betrug», sagte mein Vater, als er meiner Mutter von dem Vorfall in seinem Büro erzählte. «Unterschlagung oder wie auch immer er es genannt hat. Ich würde es Mundraub nennen. Man muss keine große Geschichte daraus machen.»
«Mir ist ganz egal, ob sie groß ist oder klein», sagte sie. «Aber du sorgst dafür, dass sie kein gutes Ende nimmt. Das hätte ich vom ersten Tag an wissen müssen.» Damit ging sie nach draußen und rauchte eine Zigarette. Sie hatte nicht einmal gefragt, ob mein Vater getan hatte, was ihm vorgehalten wurde, sie hatte ihn bloß die ganze Zeit über angeschaut und war dann hinausgegangen. Erst da hatte mein Vater gesagt:
«Was die mir bezahlen, ist lausig, wenn man bedenkt, was ich hier mache. Jeder verdammte Manager nimmt sich seine Boni und seine Gratifikationen und was weiß ich. Keiner findet was dabei.»
Das war alles, was er sagte. Und obwohl ich wusste, dass es nicht richtig war, konnte ich ihn verstehen.
Mein Vater erwähnte den Mann, der ihm gedroht hatte, später mit keinem Wort, und wenn ich ihm zusah, wirkte er genau wie an jedem anderen Tag. Er sprach lange mit den Nachbarn, und dabei kam er mir vor wie der Kapitän eines Piratenschiffs, den ich einmal in einem Film gesehen hatte. In diesem Sommer war ich gerade acht geworden, und in der Woche nach meinem Geburtstag fuhren wir an die Nordsee. Dort lief der Film in einer Nachmittagsvorstellung für Kinder, und ich sah ihn am ersten oder zweiten Tag. Unser Urlaub dauerte eine Woche, und solange wir blieben, regnete es. Mein Vater tat, als bemerkte er das schlechte Wetter nicht, und also taten wir auch so, denn damals glaubten wir ihm, was er sagte, auch wenn es aussah, als müsste er sich täuschen. Sobald der Regen nachließ, zogen wir Plastikcapes über und machten uns auf den Weg zum
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