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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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halbe Minute behielt, bevor ich ihn hinunterschluckte. Zwischendurch versuchte ich zu schlafen. Am Donnerstagnachmittag war das Fieber abgeklungen. Jetzt bekam ich Hunger, und daran merkte ich, dass ich schon weitgehend gesund war. Aber meinen Eltern würde ich sagen, ich fühlte mich nach wie vor geschwächt.
     
    Meine Mutter weckte mich am nächsten Morgen noch im Bademantel, als hätte sie ohnehin nicht damit gerechnet, mich in die Stadt fahren zu müssen. Dann sagte sie, sie wolle in einer Stunde mit meinem Vater zu einem Termin und anschließend zum Friseur.
    «Was für ein Termin?», fragte ich.
    «Beim Sachbearbeiter, du weißt schon», sagte sie und lächelte. Dieses Lächeln verwirrte mich.
    «Sag schöne Grüße», sagte ich.
    Ich kannte den Mann nicht, aber mein Vater sagte das Gleiche, wenn sie mal wieder ein Gespräch hatte. Ohne ihn je getroffen zu haben, hielt er ihn für einen Idioten.
    «Mach ich», sagte sie. «Da wird er sich freuen, wenn die ganze Familie grüßt.»
    Ich blieb liegen, bis sie gegangen waren, und hörte Simon & Garfunkel. Tatsächlich fühlte ich mich jetzt wieder krank, als wäre ich ihr das schuldig. Ich zog meine Sportsachen an, setzte mich in die Küche, löste eine Aspirintablette in einem Glas Wasser und blätterte dabei in einer zwei Tage alten Zeitung, die dort auf dem Tisch lag. Die letzte Seite war zur Hälfte abgerissen, der Riss ging mitten durch das Foto einer Straßenbahn, die beim Zusammenstoß mit einem Müllauto aus den Schienen gesprungen war, wie es im Text darüber hieß. Ich las, was von dem Artikel übrig war, und fing noch verschiedene andere an, während ich langsam das Glas austrank.
    Die Polizisten hörte ich, bevor ich sie sah und bevor ich wusste, dass sie Polizisten waren. Sie kamen gegen Mittag und zu zweit. Das Erste, was ich wahrnahm, waren die Stimmen. Es waren Männerstimmen, so viel konnte ich erkennen, auch wenn einzelne Wörter nicht zu verstehen waren. Ich stand auf, ging zurück in mein Zimmer, wo ich die Tür hinter mir schloss und vom Bett aus durchs Fenster spähte. Draußen waren zwei Männer in Uniformen. Sie schlenderten langsam zwischen den Wohnwagen durch, schauten immer wieder nach links und rechts, und als einer die linke Hand bis über den Kopf hob, die rechte an die Stirn legte und nah an einen Wagen herantrat, begriff ich, dass der schwarze Stab, den er getragen hatte, eine Taschenlampe war, mit der er durch die Scheibe leuchtete.
    Ich duckte mich und presste mich flach auf die Matratze, von da aus griff ich zur Seite, streckte die Arme nach unten und ließ mich langsam auf den Boden rutschen. Ich robbte zur Wand und machte mich klein. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, aber ich stellte mir mit einem Mal vor, die Polizei wäre hier, um mich zu verhaften, weil ich etwas ausgefressen hatte und mich in diesem Wagen versteckt hielt. Ich fragte mich, ob die Männer auch zu unserem Container kommen würden und was sie wohl täten, wenn sie mich fänden, und was sie wirklich hier draußen suchten, wenn nicht mich. Dann dachte ich an den Einbruch bei Carlo und überlegte, ob sie deshalb hergekommen waren, obwohl das nicht sehr wahrscheinlich war.
    Die Stimmen wurden leiser. Ich bewegte mich geduckt zurück in die Küche und näherte mich dem Fenster. Die Polizisten waren weitergegangen, sie standen jetzt wahrscheinlich bei den Schaustellerwagen, von denen nur zwei Ecken hinter den weißen Kisten hervorragten. Ich duckte mich wieder und stellte mir vor, ich hätte Klaus erschossen, in Notwehr, und wäre auf der Flucht, um meine Unschuld zu beweisen. Selbst wenn ich eine Waffe hätte, könnte ich nicht auf die Polizisten schießen, dachte ich. Meine einzige Möglichkeit war, mich zu verstecken, vielleicht ihr Auto zu stehlen oder die Reifen zu zerstechen, damit man mich nicht verfolgen könnte.
    Sie klopften eine oder zwei Minuten später. So lange hatte ich mich nicht vom Fleck gerührt, sondern dicht neben der Spüle gekauert und gehofft, sie würden einfach wieder verschwinden. Dann tauchte der Kopf eines Polizisten vor dem Fenster auf. Ich stemmte mich hoch und öffnete die Tür. «Guten Tag», sagte ich.
    Sie grüßten nicht zurück.
    «Was machst du hier?», fragte der eine. Der andere stand dabei, die Hände am Gürtel. Seine Taschenlampe hing ihm in einer Schlaufe von der Hüfte.
    «Ich wohne hier», sagte ich, und während ich das sagte, kam es mir vor, als wäre es nicht wahr. Dass ich überhaupt hier stand, konnte ich

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