Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Jahrhunderts regelmäßig Knaben kastriert, um ihre hohe Stimme für den Gesang zu erhalten. Die Kastration eines erwachsenen Mannes machte die Veränderungen der Pubertät nicht mehr rückgängig. Die Stimme blieb tief und der Körper männlich. Doch der Geschlechtstrieb ging deutlich zurück und führte bei manchen bis zur Impotenz.
Im Gegensatz zu den Männern hatte die Kastration von Frauen keine Tradition. Bei ihnen mussten für eine Kastration die Eierstöcke entfernt werden, was einen operativen Eingriff notwendig machte, der früher schlicht nicht möglich war. Zur sexuellen Disziplinierung von Frauen wurden deshalb häufig die äußeren Genitalien wie die Schamlippen und die Klitoris entfernt.
Diese Verstümmelung von Frauen war in Teilen Afrikas sehr weit verbreitet. Auch heute noch werden jedes Jahr bis zu drei Millionen Mädchen die äußeren Genitalien oder Teile davon abgeschnitten und die entstehende Wunde vernäht. Bei sehr vielen Frauen führten diese Verstümmelungen zu lang währenden massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Emma schauderte. Sie musste an Thomas Kern denken. Er arbeitete als Frauenarzt seit vielen Jahren in Burkina Faso und hatte sicher schon viele verstümmelte Frauen behandelt. Sie nahm sich vor, Kern nach den genauen Auswirkungen dieser Gewalttaten zu fragen, die dort bis heute an der Tagesordnung waren.
Es wunderte sie nicht zu lesen, dass die genitale Verstümmelung von Männern eher selten vorkam. In einer russischen Sekte war die genitale Verstümmelung von Frauen und Männern noch im 19. Jahrhundert üblich gewesen, doch ansonsten gab es eher weit zurückliegende Traditionen wie bei den Priestern der Göttin Kybele. Kybele wurde zusammenmit ihrem Geliebten Attis in Kleinasien und später auch in Griechenland und Rom verehrt. Der Kybelekult war vom 7. vorchristlichen Jahrhundert bis zum 5. Jahrhundert nach Christus ein im ganzen römischen Reich verbreiteter Mysterienkult. Die Priester der Kybele waren kastriert. Sie entmannten sich selbst in einem orgiastisch gesteigerten öffentlichen Ritual beim jährlich stattfindenden Märzfest.
Emma fand es lächerlich, dass die genitale Verstümmelung von afrikanischen Frauen mit der Beschneidung von Männern verglichen wurde. Denn das Abschneiden von Schamlippen und Klitoris kam einer Entfernung des kompletten Gliedes gleich. Bei Beschneidungen von Männern zum Beispiel im jüdischen Glauben wurde dagegen lediglich die Vorhaut entfernt.
Emma stand auf und trat an das Fenster. In den Baumwipfeln auf dem Heiligenberg hing Nebel, eine dunkle Regenwolke schob sich in das Neckartal. Sie dachte darüber nach, welche religiöse Bedeutung die Kastration und auch die genitale Verstümmelung haben konnte. Da die Morde in einem Kloster stattgefunden hatten, lag der Zusammenhang einfach nahe.
Weil bei Frauen eine Kastration ohne operativen Eingriff nicht möglich war, wurde sie aus religiösen oder sozialen Gründen praktisch nie durchgeführt. Dagegen war die genitale Verstümmelung weit verbreitet. Bei Männern hingegen galt die Kastration als ein Mittel, um den Sexualtrieb zu unterdrücken. Bei ihnen kam die genitale Verstümmelung praktisch kaum vor. Sie erinnerte sich daran, was Hertl erzählt hatte.
Hertl. Tränen traten ihr in die Augen. Emma zwang sich, nur an seine Worte zu denken. Er hatte erzählt, dass es in den Anfängen des Christentums immer wieder religiöse Eiferer gab, die mit Hilfe der Kastration ihre Lust unterdrückenwollten. Angenommen, sie lag mit ihrer ersten Vermutung falsch und es handelte sich nicht um einen Schatzsucher, der die Handschrift suchte. Angenommen, sie hätten es mit einem religiösen Eiferer zu tun, mit dem Wunsch, zumindest symbolisch den Sexualtrieb zu unterbinden. Er hatte Miriam Schürmann und auch Markus Hertl äußerst brutal die Genitalien abgeschnitten. Das sah nicht nach einem religiösen Beweggrund aus, eher nach einem Racheakt oder einem sexuell motivierten Gewaltakt. Aber wie hingen die Morde in Bingerbrück mit Pater Benedikt zusammen, dem kastrierten Mönch?
Emma zog ein Blatt Papier zu sich her und schrieb die Namen derer darauf, die zur Clique gehört hatten und in der vergangenen Woche im Gästehaus des Klosters untergebracht gewesen waren.
Thomas Kern. Gynäkologe, in Afrika tätig.
Josef Windisch. Priester.
Schwester Lioba. Äbtissin.
Emma zögerte. Paul glaubte an eine Beteiligung ihres Vaters. Widerstrebend schrieb sie den Namen ihres Vaters.
Gerhard Lehmann.
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