Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
veröffentlichte.
Die Tür des Gästehauses öffnete sich erneut. Baum trat auf den Hof und strebte ihm entgegen. Sie sah aus, als könne sie es kaum erwarten, ihm etwas mitzuteilen.
»Halt dich fest, Chef«, keuchte Sabine Baum schon von weitem.
»Ich wüsste nicht, woran«, murmelte Grieser und setzte sich langsam Richtung Kirche in Bewegung. Baum stoppte neben ihm und versuchte, sich seinem Tempo anzupassen.
»Was meinst du?«, keuchte sie irritiert.
Grieser schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig«, sagte er laut. »Was gibt’s?«
»Die Kollegen sind ziemlich sicher, dass die Frau nicht in ihrem Zimmer im Gästehaus ermordet wurde. Aber eine der Ordensschwestern hat erzählt, es gab am Freitagabend Streit. Sie hat laute Stimmen aus dem Zimmer der Toten gehört. Am Samstag ist die Frau nach der Weihe abgereist, obwohl sie ursprünglich bis Sonntag bleiben wollte.«
Grieser zog die Augenbrauen hoch. »Wisst ihr schon, mit wem sie sich gestritten hat?«
»Die Schwester hat nur die Stimme von Miriam Schürmann erkannt«, sagte Baum. »Die zweite Stimme war von einem Mann, aber sie wusste nicht, von wem.«
Sie war inzwischen zu Atem gekommen, musste aber immer noch ihre Schritte zügeln, um ihn nicht hinter sich zu lassen.
»Kramer soll ihr Handy und auch das Telefon in ihrem Zimmer überprüfen«, sagte Grieser nachdenklich.
»Ist er schon dran.«
»Außerdem könnte es jemand aus dem Gästehaus gewesen sein. Oder aus dem Kloster.«
»Vielleicht ist sie wegen dem Streit so früh abgereist«, sagte Baum. Grieser warf ihr einen nachdenklichen Blick zu.
»Könnte sein«, sagte er. »Falls sie sich bedroht fühlte, hat ihr die Flucht wenig genutzt.«
Deus, in adiutorium meum intende. Domine, ad adiuvandum me festina. Gloria Patri, et Filio, et Spiritu Sancto.
Es war ungewohnt eng in der kleinen Nikolauskapelle. Schwester Lioba schwitzte und wischte sich unauffällig die Hände. Sie hatte die Mitschwestern zur Sext, dem Mittagsgebet, hier zusammengerufen. Die Abteikirche war von der Polizei noch nicht freigegeben worden. Schwester Lioba konnte es immer noch nicht fassen, dass nur wenige Stunden nach ihrer Weihe als Äbtissin eine Schulfreundin in derAbtei ermordet aufgefunden worden war. Schuldgefühle quälten sie und auch Scham. Das Brandmal auf Miriams Körper war Beweis genug, dass einmal begangenes Unrecht sich früher oder später rächte. Doch dass ausgerechnet Miriam den Preis bezahlen musste, war zutiefst ungerecht.
Deduc me in semitam präceptorum tuorum, quia ipsam volui. Inclina cor meum in testimonia tua et non in avaritiam.
Schwester Lioba bemühte sich, ihre Gedanken zu sammeln. Die regelmäßigen täglichen Gebete mit den Schwestern des Konvents waren wie Perlen eines Rosenkranzes, die dem Tag Struktur und auch Bedeutung verliehen.
Schwester Lioba sang entschlossen weiter. Noch vor wenigen Tagen hatte sie der Gedanke gequält, ob ihre Stimme und ihre Kraft als Äbtissin immer stark genug sein würden, um Vorbild zu sein. Nun war das ihre geringste Sorge. Als sie aufblickte, begegnete sie dem Blick von Schwester Raphaela, einer hageren Frau mit strengen Augen. Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch Schwester Lioba war sicher, dass sie es noch nicht verwunden hatte, dass Schwester Lioba und nicht sie zur Äbtissin gewählt worden war.
Ihr Blick kehrte zurück in das Gebetbuch. Sie überflog mehrere Zeilen, bis sie die richtige Stelle hatte. Sie las gerne mit, obwohl sie den Text längst auswendig kannte. Der Gregorianische Choral gab die Gebete vor, die sie Jahr um Jahr im Wechsel der Wochentage und Jahreszeiten sangen, ergänzt von den Tagesgebeten und Lesungen. Mit den Augen über die Zeilen zu wandern gehörte zu ihrem Ritual, war Teil der Meditation und des Trostes, den die liturgischen Gesänge ihr gaben.
Ein ungewohnt tiefes Räuspern ließ sie erneut aufsehen. Ihr Blick fiel auf Josef Windisch. Ärger schoss in ihr hoch. Windisch gehörte zur alten Clique, genau wie Miriam, Thomas Kern und Markus Hertl. Seit heute Morgen bedauertesie es zutiefst, ihre ehemaligen Klassenkameraden eingeladen zu haben. Windisch wäre zwar in jedem Fall gekommen. Er war Theologe, Professor und vermutlich in einigen Jahren ihr Bischof. Doch wenn sie nicht die ganze Clique eingeladen hätte, dann wäre Miriam vielleicht noch am Leben.
Schwester Lioba senkte mühsam den Blick und versuchte vergeblich, sich auf die Gebete zu konzentrieren. Sie musste endlich mit der Polizei reden. Es war
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