Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Vatikan bis heute nicht stattgefunden, obwohl Hildegard imrömischen Kalender als heilig verzeichnet ist. Anlässlich ihres 800. Todesjahres haben katholische Frauenverbände 1979 in Rom die Bitte vorgebracht, Hildegard als Kirchenlehrerin anzuerkennen. Doch das Verfahren ist nach wie vor im Vatikan in der Prüfungsphase.«
»Und wo ist das Problem?«, fragte Emma. Ein Lastkahn kam ganz in ihrer Nähe vorbei. Man hörte Kinder, ein Hund kläffte. Doch an Bord war niemand zu sehen.
»Rom hat fast zehn Jahre lang darüber nachgedacht, Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin zu erheben. Dann wurde mitgeteilt, dass Hildegard von Bingen leider erst dann zur Kirchenlehrerin ernannt werden könne, wenn sie heiliggesprochen sei. Daraufhin baten die katholischen Frauen und die deutschen Bischöfe, sie doch heiligzusprechen. Doch bisher konnte sich Rom noch nicht dazu entschließen.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Emma.
»Das ist der offizielle Gang der Dinge«, erklärte Hertl. »Erst wird jemand heiliggesprochen und dann erst zum Kirchenlehrer oder zur Kirchenlehrerin erklärt.«
»Aber in die Verzeichnisse ist sie doch als Heilige aufgenommen worden.«
»Trotzdem hält der Vatikan bis heute daran fest, dass sie offiziell nicht heiliggesprochen wurde. Das ist genau der Grund, warum viele glauben, die Kirche zweifele die naturwissenschaftlichen Schriften der Hildegard von Bingen an, weil sie bis heute ein Problem mit der menschlichen Sexualität hat. Insbesondere dann, wenn sich Ordensleute so ausführlich mit dem körperlichen Aspekt der Sexualität beschäftigen.«
»Also«, sagte Emma und legte die Stirn in Falten, »entweder die Schriften stammen nicht von ihr, dann könnte die Kirche sie heiligsprechen. Oder die Kirche erkennt die naturwissenschaftlichen Schriften als die Werke Hildegardsvon Bingen an und weigert sich, sie heiligzusprechen. Aber beides gleichzeitig ergibt ja keinen Sinn.«
Hertl lachte. »Sie denken viel zu logisch. Vielleicht fürchten sie ja, dass irgendwann alte Schriften auftauchen, die eine handfeste Erklärung dafür liefern, woher Hildegard von Bingen dieses detaillierte Wissen über Sexualität hatte. Jedenfalls schweigen sich die offiziellen Stellen der Kirche aus. Schon seit vielen hundert Jahren.«
»Vielleicht wissen sie ja mehr«, sagte Emma nachdenklich. Sie beobachtete einen Schwarm kleiner Fische, der sich auf der obersten Stufe in einer Handbreit Wasser sammelte und wie ein organisches Wesen hin und her huschte. »Vielleicht liegt in den Archiven des Vatikans die Originalhandschrift der Hildegard von Bingen. Vielleicht steht da noch mehr Unaussprechliches drin als in den später überlieferten Abschriften. Vielleicht weiß die Kirche genau, warum sie diese Ordensfrau mit dem scharfen naturwissenschaftlichen Verstand nicht heiligsprechen will.«
»Tja«, sagte Hertl, »so ähnlich dachte auch Bruder Benedikt.«
»Sie glauben nicht daran?«
»Der Vatikan mit seinen Archiven liefert natürlich jede Menge Stoff für Spekulationen. Es ist so einfach, in das Schweigen der Ordensmänner Wissen hineinzudeuten. Vielleicht steckt aber auch schlicht Unwissen dahinter.«
»Warum sollten sie dann schweigen?«
»Weil Unwissen manchmal noch mehr Angst macht als Wissen.« Hertl wandte sich zur Seite und ging zwei Schritte. Fragend sah er Emma an. Sie nickte wortlos und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Gemeinsam schlenderten sie am Ufer entlang und steuerten auf ein Gasthaus zu.
»Das heißt, Sie glauben nicht an eine Geheimhaltungsstrategie des Vatikans«, kam Emma auf das Thema zurück.
»So ist es«, erwiderte Hertl.
»Was glauben Sie dann?«
»Ich denke, es ist einfach unklar. Die detaillierten Beschreibungen der menschlichen Sexualität müssen nicht von Hildegard von Bingen stammen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie von ihr sind. Und deshalb hält sich der Vatikan bedeckt.«
»Das würde bedeuten, die Kirche hat tatsächlich bis heute Probleme damit, dass der Mensch ein Wesen mit natürlichen Trieben und Bedürfnissen ist.«
»Das würde es bedeuten«, sagte Hertl.
Sie näherten sich dem Gasthaus.
»Da finde ich die Verschwörungstheorie noch harmloser«, sagte Emma. »Wer weiß, was in der Originalhandschrift alles drin steht, was die Kirche bis heute ablehnt. Wäre doch auch ein Grund, Hildegard von Bingen nicht heiligzusprechen.«
»Was von ihr überliefert ist, finde ich schon revolutionär genug.«
Hertl blieb vor dem Gasthaus stehen, das auf einer
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