Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
erste Mal, dass sie seit demMorgen, an dem sie Miriams Leiche auf dem Altar vorgefunden hatten, wieder in ihrer Abteikirche den Gottesdienst halten konnten. Es war ein schwerer Moment, aber sie war entschlossen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Die Gemeinschaft sollte so schnell wie möglich zum Alltag zurückkehren, der ihnen allen mit seiner Routine die Kraft geben würde, ein gottgefälliges Leben zu führen.
Wenige Minuten später betrat Schwester Lioba die Kirche. Dankbar sog sie den vertrauten Geruch ein. Einige Schwestern saßen bereits an ihrem angestammten Platz im Chorgestühl und versenkten sich ins Gebet. Andere eilten herbei, beugten das Knie vor dem Kreuz und suchten ihren Platz auf.
Die Glocke läutete seit einigen Minuten zum Gebet. Wenn der letzte Ton verklungen war, würde, wie schon Jahrhunderte zuvor, auch die letzte Schwester auf ihrem Platz sein und sich dem Stundengebet widmen. Dann würde Ruhe einkehren, in ihrer Kirche und auch in ihrem Herzen, zumindest für die Zeit des gemeinsamen Gebets. Eine Ruhe, die kostbarer war als alles andere. Schwester Lioba empfand Liebe, als ihr Blick über die Köpfe der ihr anvertrauten Mitschwestern glitt. Unwillkürlich fragte sie sich, welche der andächtig versammelten Schwestern ein Verhältnis zu einem Mann hatte und zugleich den Schein einer gehorsamen Ordensfrau aufrechthielt.
»Vater hat mir versprochen, dass er mir morgen mehr darüber erzählt, was die Ereignisse im Internat mit Mutters Entscheidung zu tun hatten, wieder nach Hamburg zu gehen«, sagte Emma leise. Sie saß, während sie telefonierte, in ihrem Bus und blickte auf die gegenüberliegenden Weinberge. Die Sonne zog ihre Strahlen ein wie eine Schnecke ihre Fühler und verkroch sich hinter dem Bergkamm.
»Sieh an«, erwiderte Andrea. Emmas Schwester war vorsichtig, wie immer, wenn sie über die Trennung ihrer Eltern sprachen. Sie war älter als Emma und hatte bereits damals die Trennung der Eltern bewusst hinter sich gelassen.
»Ich habe gestern mit ihm telefoniert«, sprach Emma weiter. »Er meinte wie immer, dass es eigentlich nichts zu erzählen gibt. Gleichzeitig hat er gesagt, dass er längst mit uns beiden darüber sprechen wollte.«
»Emma, sei mir nicht böse, für mich ist gerade ein schlechter Moment, die Kinder haben Hunger, und Sven wird bald da sein.«
»Du drückst dich mal wieder«, erwiderte Emma enttäuscht.
»Ach hör doch auf«, sagte Andrea. Ihre Stimme klang nun schriller, wie immer, wenn sie sich ärgerte. »Ich habe das alles hinter mir gelassen. Und das soll auch so bleiben.«
»Die Ereignisse im Internat waren der Auslöser für ihre Trennung, das kann dir doch nicht egal sein«, sagte Emma aufgebracht. Im gleichen Moment ärgerte sie sich, dass sie nicht den Mund halten konnte. Das war nicht der richtige Moment, um einen alten Streit aufzuwärmen.
»Ach, Emma«, erwiderte Andrea resigniert.
»Du, ich habe nicht angerufen, um mit dir zu streiten«, sagte Emma rasch. Sie strich sich über die Stirn. Ihre Augen brannten. »Eigentlich wollte ich nur erzählen, dass ich im Moment eine interessante Geschichte recherchiere. Ich bin in Bingerbrück in einem Kloster, dort ist die Leiche einer Frau auf dem Altar gefunden worden.«
»Ja, hab ich gelesen«, erwiderte Andrea versöhnlich. »Im Fernsehen haben sie auch was darüber gebracht. Klingt schon merkwürdig. Gibt es denn Hinweise, wer das getan hat und warum?«
»Deshalb habe ich gestern Vater angerufen«, sagte Emma zögerlich.
»Ach«, sagte Andrea überrascht. Emma hörte die beiden Kinder im Hintergrund. Lautes Kinderlachen erklang, dann ein helles Kreischen. Andrea blieb von dem Kampfgetümmel ihrer Kinder unbeeindruckt.
»Die tote Frau hatte eine frische Tätowierung in der Leiste«, erklärte Emma. »Die gleiche Tätowierung wie bei dem Mönch damals, der in Vaters Internat Selbstmord begangen hat.«
Emma hörte ihre Nichte im Hintergrund rufen. Ihre Schwester schwieg.
»Andrea?«, fragte Emma zweifelnd. »Bist du noch dran?«
»Ja, ich bin noch da«, erwiderte Andrea. »Davon habe ich bisher nichts mitgekriegt. Ich frage mich gerade, was das zu bedeuten hat. Die Polizei kann doch nicht ernsthaft annehmen, dass es eine Verbindung gibt.«
»Ich habe das aus einer sicheren Quelle«, sagte Emma. »Die Polizei hat das bisher noch nicht offiziell rausgegeben. Die tote Frau war eine Schülerin von Pater Benedikt, ich kann mir nicht vorstellen, dass es keinen Zusammenhang gibt.«
»Und was hat
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