Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
beschäftigt. Die theologischen Werke Hildegards von Bingen sind unumstritten.«
»Im Gegensatz zu ihren naturwissenschaftlichen«, ergänzte Emma nachdenklich.
Hertl nickte und blieb stehen. Er strich sich die Haare aus der Stirn und schob seine Hand zurück in die Tasche seines Wollmantels. »Das Original dieser Schrift ist nicht überliefert. Es gibt nur Abschriften, die frühestens 100 Jahre nach ihrem Tod entstanden sind. Viele Theologen und auch Historiker bezweifeln, dass alles, was darin geschrieben steht, von Hildegard stammt.«
»Und warum?«, fragte Emma.
»Genau das ist die Frage«, sagte er. »Es gibt zwei Gründe, daran zu zweifeln, einen formalen und einen inhaltlichen. Letztlich muss jeder für sich selber beurteilen, welches der Argumente ausschlaggebend ist. Die Originalhandschrift war vermutlich ein einziges Buch mit dem Titel ›Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe‹. Die später entstandenen Abschriften wurden auf zwei Bücher verteilt. Eines davon trug den Titel ›Physica‹, das andere ›Causae et curae‹. Im Mittelalter war es durchausüblich, sogenannte Kompilationen zu erstellen. Das heißt, ein Schreiber, der sich für ein bestimmtes Thema interessierte, hat in seiner Schrift alles zusammengenommen, was dazu passte. Dabei hat er es oft nicht so genau genommen, was von wem stammte.«
»Das bedeutet, die Kirche zweifelt an, ob der komplette Inhalt dieser beiden Bücher wirklich auf Hildegard von Bingen zurückgeht.«
»So ist es«, bestätigte Hertl. »Allerdings zeigen die überlieferten Texte inhaltliche und stilistische Eigenheiten, die sich auch in anderen Texten Hildegards von Bingen finden. Das heißt, dass der Inhalt beider Bücher vermutlich zum großen Teil tatsächlich von ihr stammt. Aber es muss in der Tat nicht alles von ihr sein. Die Zweifel sind durchaus berechtigt.«
Emma nickte. »So weit also zum formalen Grund. Und der inhaltliche?«
»In den beiden überlieferten Abschriften sind nicht nur umfassende Beschreibungen von Tieren, Pflanzen, Edelsteinen und Metallen enthalten, sondern auch umfassende Beschreibungen des Menschen und seiner Natur. Dabei hat Hildegard von Bingen nichts ausgelassen, sie hat sich wie eine echte Naturwissenschaftlerin verhalten.«
»Das bedeutet?«, fragte Emma.
»Sie hat sich auch umfassende Gedanken gemacht über die Sexualität des Menschen bis hin zu detaillierten Schilderungen des Sexualaktes aus Sicht eines Mannes und auch aus Sicht einer Frau.«
»Woher hat eine Ordensfrau dieses Wissen?«
»Das genau«, erwiderte Hertl, »fragen sich viele, darunter auch etliche Theologen und Wissenschaftler. Das nährt natürlich auch die Zweifel, ob Hildegard von Bingen wirklich diese Texte geschrieben hat.«
»Und wie stand Bruder Benedikt dazu?«
Hertl und Emma erreichten das Rheinufer. Mehrere Stufen aus Granit führten zum Wasser hinunter, flache Wellen plätscherten dagegen. Sie starrten ins Wasser, das zur Mitte des Flusses immer dunkler wurde.
Emma schauderte und kämpfte mit der aufsteigenden Nervosität, die der Anblick von fließendem Wasser immer bei ihr auslöste. Sie hatte Angst vor Flüssen und Bächen, seit sie als Kind mit einem Ruderboot auf dem Neckar kenterte und endlose Sekunden unter Wasser war, bis die Hand ihres Vaters nach ihr griff und sie zurück ins Leben holte.
»Bruder Benedikt war insbesondere von den naturwissenschaftlichen Schriften sehr angetan«, nahm Hertl das Gespräch wieder auf. »Er war Naturwissenschaftler und der Meinung, dass die Kirche sich ohne Wertung auch mit den irdischen und körperlichen Seiten des Menschen beschäftigen sollte. Für ihn war Hildegard von Bingen ihrer Zeit weit voraus. Sie hatte kein Problem mit der menschlichen Sexualität, trotz Zölibat. Pater Benedikt hat sie dafür von ganzem Herzen bewundert. Er war der Meinung, wenn insbesondere die katholische Kirche ein ähnlich unverkrampftes Verhältnis zur menschlichen Sexualität entwickelt hätte wie Hildegard von Bingen, dann wären der Kirche viele Probleme erspart geblieben.«
»Wie stehen die großen Kirchen eigentlich heute zu ihr?«, fragte Emma.
»In der evangelischen Kirche wird sie als Theologin und herausragende Kirchenfrau sehr verehrt. Auch in der katholischen Kirche ist sie eine sehr angesehene Theologin. Allerdings konnte sich der Vatikan bis heute nicht dazu durchringen, sie offiziell heiligzusprechen. Eine formelle Heiligsprechung hat trotz viermaliger Prüfung durch den
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