Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Hildegard-Medizin.« Emma erinnerte sich, dass sie in den vergangenen Jahren den Namen Hildegard von Bingen vor allem in diesem Zusammenhang gehört hatte.
»Eine Hildegard-Medizin in diesem Sinne gibt es nicht.« Hertl blieb stehen und drehte das Gesicht in den Wind. »Sie hatte umfassende Kenntnisse über Krankheiten, Kräuter, Metalle und Edelsteine. Sie hat sich viele Gedanken über deren Wirkung gemacht.« Eine Haarsträhne tanzte über seine Stirn. »Aber viele ihrer Ausführungen sind heuteweitgehend überholt. Der österreichische Arzt Gottfried Hertzka hat sich 1947 in Konstanz niedergelassen und berief sich bei seiner medizinischen Tätigkeit auf Hildegard von Bingen. Er hat in den 1970er Jahren den Begriff Hildegard-Medizin geprägt.«
Emma blieb stehen und betrachtete ihn aus einigen Schritten Entfernung.
»Hildegard von Bingen werden zwar erstaunliche Kenntnisse zugebilligt, die zum Teil bis heute unserer wissenschaftlichen Sicht entsprechen, doch ihre Behandlungsverfahren beruhen natürlich auf mittelalterlichen und mystischen Vorstellungen«, sprach Hertl weiter. »Hildegard von Bingen hat Körper, Geist und Seele als Einheit betrachtet. Entsprechend konsequent hat sie den menschlichen Körper mindestens ebenso gründlich erforscht wie die menschliche Seele. Heute weiß man, dass sie Schriften griechischer Ärzte gelesen haben muss und auch medizinische Schriften der arabischen Welt. Ihr Verdienst ist, dass sie eine eigenständige Interpretation der medizinischen Theorie unter Einbeziehung der Sexualität vorgenommen hat.«
»Was hat es dann mit dem Hildegard-Tee, dem Hildegard-Brot und der Hildegard-Kräutermedizin auf sich?«, fragte Emma.
»Alles Marketingstrategien, die wenig mit dem zu tun haben, was Hildegard von Bingen geschrieben hat«, erwiderte Hertl. Er setzte sich wieder in Bewegung. »Die Menschen heute haben immer noch einfache Fragen und suchen darauf einfache Antworten. Die bekommen sie dann auch – von der Industrie und von manchem Heilsbringer. Doch meist ist das Leben nicht ganz so einfach, wie wir es gerne hätten.«
»Was hat das mit ihren theologischen Schriften zu tun?«, fragte Emma.
»Für Hildegard von Bingen gab es keine Trennung vonKörper, Geist und Seele. Sie sind eins. So wie die Seele sich nach Gesundung sehnt und einen Gott sucht, der sie tröstet und ihr Halt gibt, so braucht der Körper eine gesunde Umwelt und gesunde Ernährung, um sich gut zu fühlen. Und nur in der Einheit von Körper, Geist und Seele kann Gott seinen Raum finden.«
Ein kalter Wind strich über ihren Hals und ließ sie frösteln. Emma zog die Schultern hoch.
»Das heißt, die Auslegung der Bibel und die Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und seinen Besonderheiten sind untrennbar verbunden«, sagte sie.
»So zumindest hat es Hildegard von Bingen gesehen und auch Bruder Benedikt.«
Der Weg vor ihnen zog sich in einem großen Bogen den Hang hinunter bis zum Rhein. Auf der Wiese bogen sich einige Osterglocken im Wind. Schweigend gingen sie einige Schritte nebeneinander her. Dann nahm Emma das Gespräch wieder auf.
»Sie sagten, Bruder Benedikt war besessen von ihr. Wie hat sich das geäußert?«
»Bruder Benedikt war vor allem von ihren naturwissenschaftlichen Schriften fasziniert. Schließlich war er Biologielehrer.« Hertl rieb sich die Stirn. »Er kannte alles, was von ihr überliefert ist.«
»Und?«, fragte Emma leichthin.
Hertl beobachtete ein Sportboot, das sich seinen Weg quer über den Rhein in die Nahe bahnte. Ein lautes Brummen zeigte, dass der Bootsführer seine ganze Motorkraft einsetzen musste, um die Fluten zu queren.
»Na ja«, sagte er gedehnt, »die naturwissenschaftlichen Schriften der Ordensfrau sind durchaus umstritten. In der Kirche gibt es Stimmen, die behaupten, die Texte wurden Hildegard von Bingen untergeschoben.«
Emma runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht«, sagte sie.
Hertl blieb stehen und wandte sich ihr zu. Sein Gesicht wirkte freundlich, auch wenn ein strenger Zug um seinen Mund spielte.
»Hildegard hat im Laufe ihres Lebens etliche kleinere und größere Schriften verfasst. Am bekanntesten sind vier Bücher von ihr. Drei theologische Bücher und ein naturwissenschaftliches. Ihre theologischen Schriften sind im Original überliefert. Ihre Aussagen darin genießen hohes Ansehen in der Kirche. Auch unser Papst Benedikt XVI. hat sich während seiner Zeit als Theologieprofessor sehr intensiv mit Hildegard von Bingen und ihren Werken
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