Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
gelegene Treppe den Klosterhof. Vom Tor des Klosters war die Abteikirche über einen geschotterten Weg zu erreichen. Er führte durch einen sorgfältig gestutzten Rasen, den eine niedrige Mauer vom steil abfallenden Hang trennte. Auf der gegenüberliegenden Talseite zog sich dichter Wald bis hinauf zum Königstuhl. Emma verließ den Wegund ging vor bis zur Mauer. Sie stützte beide Hände auf und ließ ihren Blick über das Neckartal und die unten sich dahinziehende Autokarawane gleiten.
Dann drehte Emma sich um und ließ sich gegen die kalten Steine fallen. Vor ihr lag das Kloster mit den Privatzimmern der Schwestern im oberen Stockwerk. Emma spürte ihre Nervosität und fragte sich, was ihr Vater wohl sagen würde. Gab es tatsächlich ein Rätsel?
Ihr Blick blieb an einer gebeugten Gestalt hängen, eine Ordensschwester, die mit energischen Schritten die Schultreppe hinuntereilte und am Kloster vorbei in den kärglichen Vorgarten strebte. Nur wenige Meter von Emma entfernt, bückte sie sich und zupfte Unkraut aus einem kleinen Blumenbeet, in dem die ersten Osterglocken bereits blühten. Ihr Körper war schmächtig und wirkte zäh. Sie musste weit über siebzig Jahre alt sein, doch kein Schmerz schien ihre Bewegungen zu beeinträchtigen.
Die Schwester lockerte mit bloßen Händen den Boden des Beetes, glättete die Erde wieder und richtete sich vorsichtig wieder auf. Dann zog sie ein großes Taschentuch aus den Falten ihres Habits und wischte sich die Hände. Sie kehrte zurück auf den Weg, der zur Abteikirche führte. Als sie bei Emma vorbeikam, warf sie ihr einen freundlichen Blick zu. »Emma?«, fragte sie und strahlte. Sie hatte leuchtend blaue Augen, umgeben von einem Kranz feiner Fältchen.
Emma erwiderte ihr Lächeln und suchte hektisch in ihrem Gedächtnis nach einer Erinnerung. Nichts.
»Emma Prinz!« Die Ordensschwester trat freudestrahlend auf sie zu.
Emma stieß sich von der Klostermauer ab und nahm die ihr gebotene Hand. Die Frage musste ihr förmlich im Gesicht gestanden haben, denn die Ordensschwester sprach sogleich weiter.
»Ich bin Schwester Maria, wahrscheinlich erinnerst du dich nicht, aber wenn ihr euren Vater besucht habt, kamst du immer zu mir in den Garten, um einen Apfel zu bekommen.«
Emma lachte und gab zerknirscht zu, dass sie sich zwar an die leckeren Äpfel erinnerte, aber nicht an das Gesicht der Schwester.
»Du besuchst deinen Vater«, stellte Schwester Maria lächelnd fest. »Das hast du schon lange nicht mehr, oder zumindest habe ich dich schon lange nicht mehr hier gesehen.«
»Das stimmt«, erwiderte Emma, »ich bin schon lange nicht mehr hier gewesen. Mein Vater hat erst in einer halben Stunde Zeit für mich, deshalb habe ich mich noch ein wenig umgesehen.«
»Leider die falsche Jahreszeit für Äpfel«, erklärte Schwester Maria schmunzelnd. »Aber wenn du ein wenig Zeit hast, dann magst du vielleicht trotzdem mit mir der Obstwiese einen Besuch abstatten.«
Emma war froh über die Ablenkung und schlenderte gemeinsam mit der Gartenschwester am Kloster vorbei in den größeren Garten dahinter. Schwester Maria erzählte vom Ziergarten, den Kräutern und dem Gemüse im Nutzgarten. Dann erreichten sie die angrenzende Streuobstwiese. Schwester Maria zeigte ihr lachend den Baum, dessen Äpfel damals so süß gewesen waren, dass Emma davon nicht genug bekommen konnte.
»Dein Vater freut sich bestimmt, dass du ihn mal wieder besuchst«, sagte Schwester Maria freundlich.
Als Emma mit einer Antwort zögerte, wirkte sie überrascht.
»Ist was passiert?«, fragte sie und legte ihr Gesicht in besorgte Falten.
»Ich wollte mit ihm über den Mönch sprechen, der vor etwa zwanzig Jahren hier Selbstmord begangen hat.«
»Bruder Benedikt«, erwiderte Schwester Maria und nickte.
»Ja, so hieß er.« Emma betrachtete einen Baum, an dessen Zweigspitzen sich winzige grüne Blätter entrollten.
»Er hat Biologie unterrichtet«, erwiderte Schwester Maria. »Bruder Benedikt war ein wirklich guter Lehrer und konnte den Schülern viel vermitteln. Es ist sehr bedauerlich, dass sein Leben ein so plötzliches Ende genommen hat.«
»Mein Vater hat erzählt, niemand weiß, warum er das getan hat«, sagte Emma.
»Da hinten stehen unsere Äpfel- und Kirschbäume«, sagte Schwester Maria. »Sieh mal, da sind schon die ersten zarten Knospen zu sehen. In spätestens zwei Wochen steht hier alles in Blüte.«
Sie überquerte die Streuobstwiese und steuerte auf eine Bank zu, die im Schatten eines
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