Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
windschiefen Baumes stand. Die Rinde war moosbewachsen; knorrige Äste ragten in alle Himmelsrichtungen.
»Der alte Apfelbaum trägt schon seit Jahren nicht mehr«, sagte Schwester Maria lächelnd und setzte sich auf die verzogene Bank. »Er bekommt sozusagen sein Gnadenbrot hier auf unserer Wiese.«
Skeptisch blickte Emma zu den moosbewachsenen Ästen hinauf, die bis weit über die Bank ragten.
»Keine Sorge«, sagte Schwester Maria, »Schwester Martina schneidet jedes Frühjahr die morschen Äste ab.«
Emma setzte sich neben sie auf die Bank. Der Baum roch angenehm nach Moos und Rinde.
»Er hat mit seiner Tat eine schwere Sünde auf sich geladen«, nahm Schwester Maria unvermittelt das Gespräch wieder auf. »Ich mochte ihn und war von seinem Tod genausoüberrascht wie alle anderen auch. Er hat zu dem Zeitpunkt seit zwei Jahren in unserer Schule unterrichtet und schien sich in unserem Haus ganz wohl zu fühlen.«
»Haben Sie vor seinem Tod etwas bemerkt? Gab es etwas Ungewöhnliches?«, fragte Emma.
Schwester Maria antwortete nicht gleich. Vor ihren Füßen ließ sich ein gelber Schmetterling nieder und flog wieder auf.
»Ich glaube«, begann sie zögerlich, »es gab damals ein Geheimnis, das er mit einigen seiner Schülerinnen und Schüler geteilt hat. Er hatte eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen zu Hildegard von Bingen. Dort hat er wohl Dinge erzählt, die nicht allgemein bekannt werden sollten.«
»Könnte das Geheimnis mit seinem Selbstmord zusammenhängen?«, fragte Emma.
»Ich weiß es nicht, aber es ist nicht gut, wenn ein Lehrer seinen Schülern ein Geheimnis anvertraut. Ich wünschte, er hätte mit mir darüber gesprochen. Dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Bruder Benedikt hatte mehr Kraft, als er selber glaubte.«
»Gab es vor seinem Selbstmord Anzeichen für eine solche Tat?«
»Es muss etwas vorgefallen sein«, erwiderte Schwester Maria. »Am Samstagabend im Gottesdienst saß er in der Bank neben mir. Er war wie immer, freundlich, gutgelaunt. Am Palmsonntag wirkte er wie ausgewechselt. Er war übernächtigt und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Danach blieb er die ganze Woche in sich gekehrt. Und am Ostersonntag diese schreckliche Tat.«
In ihre Stimme hatte sich ein Zittern geschlichen. Überrascht blickte Emma sie an. Schwester Maria erwiderte ihren Blick und zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich habe ihn gemocht«, sagte sie. »Er war zehn Jahre jünger als ich, war wie ein jüngerer Bruder. Genau wie ichhat er den Kontakt zu Gott in den Pflanzen gesucht, im Wind, bei der Sonne und in allen Kreaturen. Ich konnte ihn so gut verstehen, wenn er sich für die Natur begeisterte und versuchte, das auch seinen Schülern zu vermitteln.«
»Haben Sie eine Idee, was passiert sein könnte, in der Nacht von Samstag auf Palmsonntag?«
Auf einmal ging Emma auf, dass auch der Mord an Miriam Schürmann in der Nacht von Samstag auf Palmsonntag geschehen sein musste. Die Parallele elektrisierte und überraschte sie zugleich.
»Ich weiß nicht«, erklärte Schwester Maria, »was in dieser Nacht geschehen sein mag. Ich weiß nur, dass Bruder Benedikt etwas erlebt haben muss, was ihn sehr aufgewühlt hat.«
»Glauben Sie, dass es der Auslöser für seinen Selbstmord war?«
Schwester Maria nickte mehrfach. »Das habe ich mich immer und immer wieder gefragt. In all den Jahren. Leider ohne eine Antwort zu haben.« Schwester Maria erhob sich und machte einen Schritt zur Seite. Vor Emma blieb sie stehen und musterte sie mit einem durchdringenden Blick. »Ich glaube nicht, dass Bruder Benedikt in dieser Nacht etwas erlebt hat, das der Grund war für diese schreckliche Tat.«
Emma fiel auf, dass sie nicht von Selbstmord sprach, das Wort schien sie nicht über ihre Lippen zu bringen.
»Ich glaube«, fuhr sie fort, »dass der Grund in ihm angelegt war, seinem Wesen entsprach. Und was immer er auch in dieser Nacht erlebt hat, das war der Auslöser. Das hat dafür gesorgt, dass dieser Teil seines Wesens zum Tragen kam, dass es aus ihm herausbrach und er es nicht mehr kontrollieren konnte.«
Emma runzelte die Stirn. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon die alte Schwester sprach.
Schwester Maria hob den Kopf und wandte sich zum Gehen.
»Das Gebet«, sagte sie und sah zum Kloster, »die Glocken rufen zum Mittagsgebet.«
Erst da bemerkte Emma die zarten Glockentöne, die im Frühlingswind mitschwangen und mal lauter und mal leiser zu hören waren.
»Du bist Journalistin, nicht wahr?«,
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