Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Sie ist zwar eine Schülerin von mir gewesen, aber wir hatten all die Jahre keinen Kontakt.Doch ihr war es sehr wichtig, sie hat deshalb mehrfach bei mir angerufen und mich regelrecht überredet.«
»Und warum bist du dann doch nicht bei der Weihe gewesen?«
»Ich war dort«, antwortete ihr Vater.
»Du warst dort?«, fragte Emma erschüttert.
»Ich kam nur zu spät«, sagte ihr Vater. »Stau auf der Autobahn. Als ich das Kloster endlich erreichte, war die Weihe schon vorbei, und die Gäste saßen beim Essen. Aber das war eigentlich egal.«
»Wieso?« Auf einmal spürte Emma, wie trocken ihr Mund war. Sie griff nach der Wasserflasche, die immer für Besuch bereitstand, und schenkte sich ein. Sie hielt ihrem Vater die Flasche hin, doch der schüttelte nur den Kopf und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf.
»Mir wurde schnell klar, dass Schwester Lioba mich nicht in erster Linie wegen ihrer Weihe eingeladen hat. Sie wollte, dass ich mit Miriam Schürmann spreche.«
»Und?«, fragte Emma.
»Das habe ich gemacht«, sagte ihr Vater. Wieder blieb er vor ihr stehen, mit beiden Händen in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen.
»Wann?« Emma zog ihre Handtasche zu sich her. Sie kramte nach einem Stück Papier und einem Stift und machte sich Notizen.
»Am Samstag kurz vor dem Abendessen. Ich wollte dann gleich wieder zurück, weil ich zum Geburtstag eines Kollegen eingeladen war. Ich wollte Kerstin, ich meine Schwester Lioba, wenigstens noch persönlich gratulieren, wenn ich schon zu spät war. Als sie mich um den Gefallen bat, konnte ich schlecht nein sagen. Also sprach ich mit ihr.«
»Worüber?«, fragte Emma. Sie notierte sich die Angaben ihres Vaters und hob nur kurz den Blick. GerhardLehmann zögerte. Dann blieb sein Blick an ihren Notizen hängen.
»Wirst du das veröffentlichen?«, fragte er zweifelnd.
Emma zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«
Auf einmal wurde ihr klar, dass es längst nicht mehr um einen Artikel ging. Sie wollte die Wahrheit.
»Ich möchte nicht in Zusammenhang mit diesem Mord in der Zeitung auftauchen.«
»Die Frau ist ermordet worden, die Polizei muss den Fall aufklären«, sagte Emma ausweichend. »Sie wird ein Interesse daran haben, was du zu erzählen hast. Schließlich hast du am Abend ihres Todes mit ihr gesprochen.«
»Ich weiß ja erst seit deinem Anruf davon«, sagte ihr Vater und runzelte die Stirn. »Gestern war schon ein Polizist hier und wollte mit mir sprechen. Der wird heute sicher wiederkommen.«
»Was wollte denn die Äbtissin von dir? Worüber solltest du mit Miriam Schürmann sprechen?«
»Schwester Lioba wollte von ihr eine alte Handschrift haben, die Miriam Schürmann vor zwanzig Jahren von Bruder Benedikt bekommen hat.« Ihr Vater atmete tief durch. »Doch Miriam wollte sie nicht herausgeben. Die Handschrift war wohl so eine Art Pfand für sie. Schwester Lioba hat anscheinend gedacht, ich könnte da was ausrichten. Was natürlich vollkommener Quatsch war. Ich wusste ja noch nicht mal, warum sie eigentlich die Handschrift hatte und warum sie sie nicht herausgeben wollte.«
»Ich habe mich gestern mit einem ehemaligen Schulkameraden von ihr unterhalten«, sagte Emma. »Der hat auch über eine Handschrift gesprochen.«
»Es gab damals an der Schule ein paar Gerüchte, der Pater hätte eine wertvolle Handschrift der Hildegard von Bingen und würde sie übersetzen. Später hieß es, er hätte sie vorseinem Tod einer Schülerin gegeben. Aber daran habe ich nie geglaubt. Und Miriam Schürmann hat mich einfach nur ausgelacht. Sie hat noch nicht einmal zugegeben, ob sie die Handschrift wirklich hat.«
»Und dann?«, fragte Emma.
»Bin ich nach Heidelberg gefahren und habe wie geplant mit Jochen und seinen Gästen in seinen sechzigsten Geburtstag hinein gefeiert.«
Emma nickte und musterte ihren Vater. Sie hatte den Eindruck, dass er mehr wusste, als er zugab. Am liebsten hätte sie ihm noch weitere Fragen gestellt. Emma zog den Ordner zu sich her und steckte ihn ein. Erst wollte sie noch mehr über die alte Geschichte wissen, bevor sie ihm weitere Fragen stellte. Als sie sich erhob, fiel ihr Blick auf einen alten Glasschaukasten in der hinteren Büroecke neben dem Schreibtisch ihres Vaters. Sie kannte den Schaukasten, hatte ihn schon oft gesehen. Nachdenklich ging Emma hinüber und warf einen Blick auf das Modell aus Hartschaum, das mindestens schon zwanzig Jahre alt sein musste. Schon als stellvertretender Schulleiter hatte ihr Vater davon
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