Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Ruhe. Sie hatten sich Weihnachten das letzte Mal gesehen, und sie fand, er sah gut aus wie immer. Die dunklen Locken hatte Emma von ihm geerbt, Andrea den klassischen Schnitt seiner Nase. Graue Strähnen durchzogen sein dichtes und kurzgeschnittenes Haar. Er war gut in Form, hatte kaum Bauch angesetzt und seine Muskeln verrieten, dass er regelmäßig trainierte. Emma wusste, dass er gern Rad fuhr und ins Fitnessstudio ging. Als sie seinem Blick begegnete, spürte sie, dass er nervös war. Sie wechselten ein paar belanglose Sätze, dann wies ihr Vater auf einen Ordner, der auf dem Tisch vor ihr lag.
»Da sind die Zeitungsausschnitte von damals gesammelt. Ich dachte, das würde dich interessieren«, sagte er.
Emma nickte und zog den Ordner zu sich her. »Was ist damals genau vorgefallen?«
Gerhard Lehmann seufzte und strich sich die Haare aus der Stirn. »Das meiste weißt du«, begann er. »Ich war damals stellvertretender Schulleiter. Meine Aufgabe bestand darin, ein Auge darauf zu haben, was die Lehrer und Lehrerinnen im Unterricht machen.«
Er stand auf und begann, nervös hin und her zu laufen, während er weitererzählte.
»Die Eltern von mehreren Schülern hatten sich damals bei mir beschwert, dass Pater Benedikt dem Lehrplan hinterherhinkte.Er hielt viel zu oft Vorträge über Hildegard von Bingen, als mit dem Unterrichtsstoff weiterzumachen.«
»Ich denke, es gab eine Hildegard-AG«, warf Emma ein.
Gerhard Lehmann blieb stehen und betrachtete sie stirnrunzelnd. Dann nahm er seine Wanderung von einer Ecke des Büros zur anderen wieder auf.
»Ja«, fuhr er fort, »aber er hat auch im Unterricht unentwegt von ihr erzählt. So dass die Eltern sich beschwert haben.«
Er kam wieder herüber zu ihr und setzte sich auf das Sofa.
»Ich habe ihn zurechtgewiesen«, sagte er und verschränkte seine Arme vor der Brust, »mehrfach. In der Woche vor Palmsonntag habe ich ihm ein Ultimatum gestellt. Entweder er zieht jetzt den Unterrichtsstoff konsequent durch, oder ich spreche mit dem Oberschulamt über eine Abmahnung.«
Ihr Vater atmete tief durch. Sein Gesicht war düster.
»Und dann der Selbstmord an Ostersonntag«, sagte er und sah Emma an. Sie spürte seine Trauer. »Einige Kollegen glaubten, dass ich ihn zu sehr unter Druck gesetzt habe. Dass er dem nicht gewachsen war.«
»Und was glaubst du?«, fragte Emma.
Er erwiderte ihren Blick, dann zuckte er mit den Achseln und erhob sich, um seinen unruhigen Gang wieder aufzunehmen.
»Ich denke nicht, dass meine Zurechtweisung irgendetwas mit seinem Tod zu tun hatte. Das Problem war nur, dass einige Kollegen das so sahen. Damals hat es mir sehr zugesetzt.«
Ihr Vater blieb mitten im Zimmer stehen und hob die Hände.
»Das war das Ende der Geschichte«, sagte er.
»Wie meinst du das?«, fragte Emma verblüfft.
»Ich war damals angespannt, es kam zwischen eurer Mutter und mir deshalb zu einigen Auseinandersetzungen, und am Ende ging sie. Das war’s.«
»Aber es ging doch immer um diesen Mönch«, wandte Emma ein und versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter damals gesagt hatte.
»Deine Mutter glaubte den Gerüchten, dass meine Drohung mit einer Abmahnung die Ursache für den Selbstmord war. Irgendwie hat sie die Partei von Pater Benedikt ergriffen und hatte das Gefühl …« Ihr Vater blieb stehen, suchte nach Worten. Schließlich kam er wieder zu ihr herüber und setzte sich. »Ich glaube, sie hat sich mit ihm identifiziert. Sie hat sich oft von mir gemaßregelt gefühlt, und ich war vielleicht auch ein bisschen lehrerhaft, auch zu Hause.« Er verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Aber das war’s. Die Ursache für unsere Trennung war immer so, wie ich es euch gesagt habe. Wir hatten uns auseinander gelebt, und deine Mutter hat in Heidelberg nie Fuß gefasst. Sie war unglücklich hier und hat gehofft, nach Hamburg in ihr altes Leben zurückkehren zu können.«
»Aber das hat nicht funktioniert«, sagte Emma leise.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er düster. »Das hat nicht funktioniert. Ich muss dir noch etwas anderes sagen.«. Nervös fuhr er sich durch die Haare. Emma runzelte die Stirn und sah ihn fragend an. So unruhig hatte sie ihn das letzte Mal vor ihrer Abi-Prüfung erlebt.
»Sie hat mich eingeladen«, sagte er rasch.
»Wer?«, fragte Emma und sah ihn verblüfft an.
»Schwester Lioba, die Äbtissin vom Rupertsberg«, sagte ihr Vater. »Sie wollte unbedingt, dass ich zu ihrer Weihe komme. Ich habe erst abgelehnt.
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