Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Internats. Er machte sich sofort auf den Weg zum Haupteingang. Als er den Fuß auf die unterste Stufe der Außentreppe setzte, öffnete sich die Tür.
Grieser blickte auf und zog die Augenbrauen zusammen. Emma Prinz trat aus dem Halbdämmer des Gebäudes und strebte der Treppe entgegen. Verärgert blieb Grieser stehen. Er fragte sich, woher die Journalistin davon wusste, dass die Spur im Bingerbrücker Mord nach Heidelberg in dieses Internat führte. Darüber hatte er mit Paul nicht gesprochen. Dann fiel ihm ein, dass Paul neben ihm im Auto saß, als Baum ihn gestern angerufen hatte.
Die Journalistin nickte ihm im Vorübergehen flüchtig zu und ging eilig Richtung Parkplatz. Grieser blickte ihr nachdenklich hinterher. Darüber musste er mit Paul sprechen. Heute noch. In die Enttäuschung über den Verrat mischte sich ganz unauffällig Freude über ein unverhofftes Wiedersehen.
Die Schwester an der Pforte hatte eine klassisch geschnittene Nase, auf der eine überdimensionale silberfarbene Brille saß. Sie protestierte, als Sabine Baum darauf bestand, mit der Äbtissin zu sprechen. Es sei die Zeit der Rekreation, erklärte sie, die Freizeit der Schwestern. Doch am Ende gab sie nach und holte die ehrwürdige Mutter aus dem Gemeinschaftsraum.
Wenige Minuten später stand Schwester Lioba vor ihr und musterte sie grimmig. Die Oberkommissarin entschuldigte sich für die Störung um diese Zeit.
»Die Rekreation ist neben den gemeinsamen Mahlzeiten die einzige Zeit des Tages, die wir nutzen können, um das soziale Gefüge der Gemeinschaft zu pflegen«, erklärte die Äbtissin. Sie stand aufrecht in der Eingangstür des Klosters.
»Es tut mir leid«, wiederholte Baum gelassen. »Aber wenn wir ein schweres Verbrechen aufklären, befinden wir uns im Ausnahmezustand und arbeiten durch. Je mehr Zeit nach einer Tat vergangen ist, desto geringer die Chance, dass wir den Täter zu fassen kriegen.«
Schwester Lioba nickte. »Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte sie und wandte sich um.
Baum folgte ihr. Sie musste sich beeilen, damit der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde. Sie fand, im Dämmerlicht wirkte das alte Gebäude, als hätte es das Mittelalter gerade erst hinter sich gelassen. Die Steinfliesen auf dem Boden waren ausgetreten. Die dicken Mauern strahlten noch die Kälte des Winters aus, und die Oberkommissarin war sicher, dass sie die Wärme langer Sonnentage ebenso speicherten. Schwester Lioba blieb vor ihrem Büro sehen.
»Kommen Sie«, sagte sie, und ihre Stimme klang warm.
Baum glaubte zu spüren, warum diese Frau zur Oberin gewählt worden war, obwohl sie noch sehr jung wirkte.
Das Gewand der Ordensfrau raschelte, als die Äbtissin den schweren Schreibtisch umrundete und sich setzte. Gelassen wartete sie, bis Baum ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Sie haben sich vor zwei Wochen mit Miriam Schürmann gestritten«, begann die Oberkommissarin das Gespräch. »Warum?«
Schwester Lioba zog die rechte Augenbraue hoch. Sie schwieg.
»Wir haben die Aussage einer Ihrer Mitschwestern, die alles gehört hat«, sagte Baum. »Sie ist im Übrigen nicht die Einzige. Auch andere Schwestern haben berichtet, dass sie einen Streit mitbekommen haben.«
Schwester Lioba neigte den Kopf. Das Licht der Deckenlampe warf einen Schatten weit über ihr Gesicht. »Ich pflege mich nicht öffentlich zu streiten«, sagte die Äbtissin ausweichend.
»Nicht öffentlich«, erwiderte Baum ruhig. »Sie waren mit Miriam Schürmann hier in Ihrem Büro. Ihr Streit war so laut, dass es draußen auf dem Hof zu hören war.«
Wie zur Bestätigung trug der Nachtwind den Geruch feuchter Erde ins Zimmer. Die Oberkommissarin warf einen Blick zum Fenster. Trotz kühler Temperaturen war es gekippt.
»Ich weiß nicht, wann das gewesen sein soll«, erwiderte Schwester Lioba. Ihre Stimme klang weich.
»Haben Sie oft mit Ihrer ehemaligen Schulkameradin gestritten?«, fragte die Oberkommissarin. Sie blickte der Äbtissin ins Gesicht, musterte ihre Augen, die dunkel waren und nichts verrieten.
Schwester Lioba lehnte sich zurück. Ihr Gesicht lag nun im Licht.
»Nein«, sagte sie ruhig, »das habe ich nicht. Aber es ist mir natürlich unangenehm, wenn gleich mehrere der Schwestern eine so persönliche Situation mithören konnten.«
Baum runzelte die Stirn. »Was war der Anlass?«
»Ach wissen Sie«, die Äbtissin seufzte vernehmlich, »die ganze Situation war mir so unangenehm, dass ich schon nicht mehr weiß, worum es eigentlich ging.
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