Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
der Mönch eine alte Handschrift an eine Schülerin weitergegeben haben soll.«
Ausdruckslos sah Grieser ihn an. Hinter ihnen war Gelächter zu hören, eine laute Stimme sprach einen Trinkspruch aus, andere antworteten, dann sank der Geräuschpegel wieder. Grieser hob reflexartig das leere Glas und stellte es wieder zurück auf den Bierdeckel.
»Du weißt, dass ich dir nicht davon erzählen darf«, sagte er. »Damit verletze ich das Dienstgeheimnis.«
Paul verzog den Mund zu einem Lächeln und nickte. Der Kellner, der seine strähnigen blonden Haare in einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden hatte, trat an ihren Tisch und brachte zwei Pils. Paul murmelte einen Dank und sah der Bedienung nach, bis sie außer Hörweite war. Dann sprach er weiter.
»Miriam Schürmann. Meinst du, die beiden …?«
Grieser nahm sein Bier und trank. Seine Augen wirkten auf einmal müde. Er schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keine Hinweise«, sagte er. »Der Mönch war kastriert.«
Paul sah ihn verblüfft an.
»Ich vertraue dir«, sagte Grieser schlicht. »Sonst würde ich dir nicht davon erzählen, das ist dir doch klar?«
Erneut trat der Kellner an ihren Tisch und griff nach den leeren Tellern. Paul beobachtete ihn schweigend. Die höfliche Frage, ob es geschmeckt habe, bejahten beide gleichzeitig. Ihre Blicke begegneten sich, und Paul spürte, wie eine Welle von Zuneigung und Lust in ihm hochschwappte.
»Ich danke dir«, erwiderte Paul und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln.
Grieser erwiderte sein Lächeln. Der Kellner hantierte mit den Tellern, die auf seinem Arm immer wieder ins Rutschen gerieten.
»Lehmann hat seiner Tochter sicher auch erzählt, dass damals einige seiner Schüler glaubten, Bruder Benedikt hätte eine verschollene Handschrift der Hildegard von Bingen in die Hände bekommen und übersetzte sie heimlich.«
»Ja«, erwiderte Paul knapp. »Emma hat davon gesprochen.«
»Die Handschrift ist in lateinischer Sprache verfasst worden und war laut Lehmann in der Kirche sehr umstritten. Angeblich hat Bruder Benedikt seinen Schülern erzählt, er wolle erst sicher sein, was darin steht, bevor er sie der Kirche übergab.«
»Und stattdessen hat er sich umgebracht und die wertvolle Handschrift seiner Schülerin in die Hand gedrückt?«, fragte Paul zweifelnd. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Lehmann vermutet heute, dass seine ehemalige Schülerin tatsächlich eine alte Handschrift im Besitz hatte. Er kann sich jedoch nicht vorstellen, dass es die verscholleneHandschrift der Hildegard von Bingen war. Aber das würde zumindest erklären, warum die Spurensicherung in der Wohnung der Ermordeten so viele Unterlagen und Bücher über Hildegard von Bingen gefunden hat.«
»Zwanzig Jahre später«, sagte Paul skeptisch.
Grieser nickte. »Ich habe nicht behauptet, dass dies die Lösung des Falles ist.« Er winkte den Kellner heran und bat um die Rechnung.
Paul leerte sein Bier und beglich seine Rechnung, nachdem Grieser bereits gezahlt hatte. Mit einem fragenden Blick stand Grieser auf und nahm seine Jacke vom Stuhl. Paul folgte ihm. Im Licht der Straßenlaterne blieb Grieser stehen.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Grieser sah zu den Insekten hinauf, die eine schwirrende Wolke um das erleuchtete Glas bildeten.
Paul wusste, was er meinte. Statt einer Antwort trat er hinter ihn, schob seine Haare zur Seite und küsste Grieser in den Nacken. Er spürte die Wärme seiner Haut und sog seinen Geruch ein. Grieser trat nach vorne und wandte sich um. Sein Gesicht im Licht der Straßenlaterne wirkte blass und müde.
»Ich muss los«, sagte er und griff in seine Jackentasche. Er förderte die Autoschlüssel zutage und drehte sie unschlüssig in der Hand.
Paul nickte enttäuscht. Nach kurzem Zögern verabschiedete sich Grieser und ging die Straße entlang, ohne sich umzusehen. Paul sah ihm nach, bis seine Gestalt mit dem dunklen Asphalt verschmolz.
»Hallo, Prinzessin. Ich hab noch Licht gesehen und dachte, ich schau mal rein.«
Emma war nach dem Gespräch mit ihrem Vater direktins Büro gefahren, um die Zeitungsausschnitte durchzugehen. Sie war froh über die Unterbrechung.
»Hallo, Paul«, erwiderte sie und strich sich über die Augen, die vom Lesen brannten. »Heute kein Schäferstündchen?«
Sie reckte sich und gähnte. Sie saß nun schon etliche Stunden über den vergilbten Artikeln und spürte auf einmal, wie müde sie war.
»Grieser war hier, er hat mit deinem Vater gesprochen.«
»Woher weiß
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