Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
er, dass mein Vater was mit der Sache zu tun hat? Hast du ihm das gesagt?«, fragte Emma. Ihre Anspannung kehrte schlagartig zurück.
»Blödsinn«, erwiderte Paul, »da ist er schon selber drauf gekommen. Er hat in der alten Ermittlungsakte gestöbert und ist dabei auf eine Aussage deines Vaters gestoßen, die vermuten ließ, dass er mehr weiß.«
»Und?« Emma schob die Reste ihres Abendessens zur Seite, eine Aluschale vom Asiaten, die sie nebenbei geleert hatte.
»Dein Vater konnte ihm nicht mehr erzählen, er hat vieles vergessen.«
»Mir hat er die Zeitungsausschnitte von damals gegeben.« Emma deutete auf den Stapel vor sich. »Aber da steht eigentlich auch nicht mehr drin, als ich schon weiß.«
»Dein Vater hat sich an was ganz anderes erinnert.« Paul ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich Emma gegenüber auf seinen Schreibtischstuhl. »Grieser sagte, manche hätten damals geglaubt, Pater Benedikt wollte sie übersetzen, bevor er sie offiziellen Stellen aushändigte. Damit die Kirche den Inhalt nicht manipulieren kann. Soll wohl irgendwas Umstrittenes drin gestanden haben.«
»Sexualität«, erwiderte Emma nachdenklich und schob die verstreut liegenden Zeitungsausschnitte zusammen. Ausführlichbegann sie zu berichten, was Hertl ihr gestern von der Handschrift erzählt hatte.
Paul pfiff durch die Zähne. »Das Sextagebuch einer Nonne aus dem 12. Jahrhundert.«
»Die Story ist auch so spannend genug, ohne dass man eine BILD-Geschichte draus macht«, brummte Emma. Sie dachte an das Foto vom Tatort und war froh, dass sie es nicht verkauft hatte. Aber das Geld würde ihr fehlen.
»Wusstest du, dass der Mönch kastriert war?«, fragte er.
Verblüfft sah Emma ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Was hat das nun wieder zu bedeuten?«, murmelte sie.
Paul zuckte die Achseln. »Übrigens hat Grieser erzählt, dass die Spurensicherung in der Wohnung der Schürmann jede Menge Unterlagen und Literatur über Hildegard von Bingen gefunden hat.«
»Spricht also alles dafür, dass sie an dem Thema dran war«, erwiderte Emma. Sie legte die vergilbten Zeitungsausschnitte zurück in den Ordner und gähnte herzhaft.
»Vielleicht hat sie den Pater damals in den Selbstmord getrieben, um an die Handschrift dranzukommen.«
»Und weshalb hat sie dann zwanzig Jahre gewartet, um daran zu arbeiten?« Emma stand auf und suchte ihre Sachen zusammen.
»Vielleicht ist sie ja seit zwanzig Jahren am Thema dran«, sagte Paul und drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl nach ihr um.
»Ihre ehemaligen Klassenkameraden müssten eigentlich seit zwanzig Jahren wissen, dass sie die Handschrift hat«, sagte sie. Eine lärmende Gruppe Jugendlicher kam an dem ehemaligen Schaufenster vorbei und starrten ungeniert in das erleuchtete Büro. Sie johlten, als sie Paul und Emma entdeckten.
»Vielleicht hatte ihr Tod überhaupt nichts mit der altenGeschichte zu tun«, sagte Emma zweifelnd und ignorierte die obszönen Gesten der Teenager.
»Glaube ich nicht«, sagte Paul. »Pater Benedikt wurde in der Osterwoche in den Selbstmord getrieben. Zwanzig Jahre später wird seine Schülerin, die im Besitz der Handschrift war, zu Beginn der Osterwoche ermordet. Das ist kein Zufall.«
Emma schwieg. Paul hatte recht. Aber sie war zu müde, noch länger darüber nachzudenken. Sie gähnte erneut.
»Okay, Prinzessin, ich merke schon, zu müde zum Denken und zu müde zum Sprechen«, sagte er und schnappte sich seinen Rucksack. Er ging zur Tür, wartete, bis Emma vor ihm das Büro verließ und schloss hinter ihnen ab. »Schlaf gut, meine Liebste«, sagte er und verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung.
Es war dunkel und kaum noch ein Wagen hinter ihm. Grieser wischte sich die Augen und blinzelte. Die Fahrbahn vor ihm wurde wieder klarer. Er sah auf die Uhr. Kurz vor halb zwölf. In spätestens einer halbe Stunde lag er hoffentlich im Bett. Diesmal in seinem eigenen in seiner Mainzer Wohnung.
Sein Handy in der Freisprechanlage klingelte. Grieser runzelte die Stirn. Auf dem Display sah er Pauls Namen. Er zögerte. Dann drückte er den Knopf.
»Hallo, Peter, wo bist du?«
Paul klang wach, seine Stimme wirkte fast fröhlich.
»Kurz vor Mainz«, sagte Grieser. Am rechten Fahrbahnrand schälte sich ein braunes Schild mit dem stilisierten Mainzer Dom aus der Dunkelheit und huschte an ihm vorüber.
»Ich habe gerade mit Emma gesprochen«, sagte Paul. »Gestern hat ihr Markus Hertl von einer verschollenen Handschriftder Hildegard
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