Die Glut des Zorns (Billy Bob Holland) (German Edition)
keine Gefahr drohte, erzählten Geschichten über sich, bei denen einem schlecht und schwindlig wurde, verheimlichten aber im nächsten Moment, dass sie von einer ledigen Mutter in einem Hinterhof aufgezogen wordenwaren. Auf die eine oder andere Weise kam Temple ihnen allen mit dem Textmarker auf die Schliche.
Ihre Abschrift von dem Gespräch mit Sue Lynn Big Medicine war zwei Seiten lang.
»Sie benutzt insgesamt sechsmal die Wörter ›Blackout‹ und ›stoned‹«, sagte Temple. »Ich habe den Eindruck, dass Ellison aus der Bar gegangen ist, mit ein paar anderen Bikern etliche Joints geraucht hat, dann zurückgekommen ist und irgendwas erzählte, bei dem sie Gänsehaut gekriegt hat. Hast du irgendeine Ahnung, was das gewesen sein könnte?«
»Nein«, erwiderte ich.
»Warum sollte sie uns etwas verheimlichen wollen?«
»Sie arbeitet für die Regierung. Vielleicht ist sie nur vorsichtig und achtet darauf, was sie sagt. Was hast du sonst noch über sie erfahren?«, fragte ich.
»Sie wurden am Rand des Crow-Reservats wegen bewaffneten Postraubs festgenommen.«
»Was?«
»Sie ist mit drei, vier anderen Indianern in einen Supermarkt gegangen. Einer von ihnen zog eine Waffe und hat vom Inhaber fünfzig Dollar und einen Liter Whiskey geraubt. Aber der Supermarkt diente auch als Postamt. Die Indianer wurden wegen Postraubs angeklagt, das ist eine Straftat, die unter Bundesrecht fällt. Sue Lynns Verhandlung ist noch anhängig.«
»Deshalb also haben sie die ATF-Agenten am Wickel.«
»Es geht noch weiter. Einer der Jungs, die mit ihr festgenommen wurden, war Lamar Ellisons Zellengenosse in Deer Lodge.«
»Damit hatten sie die ideale Person, die sie bei der Miliz einschleusen konnten.«
»Es gibt noch eine andere Sache, aber ich weiß nicht, ob das in irgendeinem Bezug dazu steht, dass sie Informantin der Regierungist. Vor zwei Jahren verschwand ihr kleiner Bruder bei einem Baseballspiel der Juniorenliga in Hardin, Montana. Einen Monat später wurde seine Leiche auf einer Müllkippe außerhalb von Baltimore gefunden.«
»Wie alt war er?«
»Zehn«, sagte Temple. »Das ist eine ziemlich verbitterte junge Frau.«
»Sie scheint ziemlich durcheinander zu sein, schon recht«, sagte ich und ließ meinen Hut um den Finger kreisen. »Ihr kleiner Bruder wurde in Baltimore tot aufgefunden?«
»Er wurde erwürgt. Keinerlei Spuren, keine Hinweise.« Als ich nichts erwiderte, sagte Temple: »Dein Sohn steigt mit ihr in die Kiste?«
»Keuschheit steht bei den meisten Kids heutzutage nicht hoch im Kurs.«
»Ich frage mich, wer seine Vorbilder waren?«, sagte sie.
Sie stand vom Tisch auf und blickte zwischen den Zedern hindurch auf den Fluss. Ein Stück weiter unten fuhren Collegekids mit ihren Rädern auf einer alten Eisenbahnbrücke hin und her, die für Fußgänger umgebaut worden war.
»Warum benimmst du dich so, Temple?«, sagte ich.
»Weil mir manchmal danach zumute ist. Weil es mich vielleicht einfach fertig macht, wenn ich in dem ganzen Jammer und Elend anderer Leute herumwühlen muss.«
»Dann warne mich künftig im Voraus.«
Sie bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Sie hatte die Augen auf mich gerichtet und blickte mich mit einer Mischung aus Angst, Schmerz und Liebe an, einer Liebe, wie sie Teenagermädchen manchmal empfinden, hell und glühend wie eine Flamme. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern, und als sie das Gesicht hob, nicht recht wusste, wie ihr geschah, küsste ich sie auf den Mund. Ichspürte, wie sie vor Überraschung zusammenzuckte, als hätte sie einen Stromschlag erhalten.
Sie trat einen Schritt zurück, hatte die Augen aufgerissen und lief rot an.
»Nur zu, schlag mich«, sagte ich.
Stattdessen wandte sie die Augen ab, sodass ich ihre Gefühle nicht deuten konnte, packte ihre Notizbücher und Aktenordner in ihren Nylonrucksack und ging zu meinem Pick-up. Auf der Rückseite ihrer Schenkel zeichneten sich die Abdrücke der Picknickbank ab.
Und wieder einmal musste ich allein mit meinem heftig schlagenden Herz zurechtkommen, mit meinen Gedanken bezüglich Temple Carrol und der Gewissheit, dass ich es einmal mehr geschafft hatte, mich zum Narren zu machen.
Später brachte ich meinen Pick-up zum Ölwechsel, und danach rief ich den Sheriff im Büro an.
»Kennen Sie einen Gangster namens Nicki Molinari?«, fragte ich.
»Er und etliche andere Spaghettis besitzen unten bei Stevensville eine Ferienranch«, erwiderte er.
»Stört es Sie nicht,
Weitere Kostenlose Bücher