Die Glut
tiefem Schlaf aufgeschreckt, im Kopf noch Erinnerungsfetzen. Ja, Veronika. Und dann Angela, die junge Witwe eines Stabsarztes, die auf Pferderennen versessen war. Nein, doch eher Veronika, die Tänzerin. Sie lebte in der Dachwohnung eines uralten Hauses in der Dreihufeisengasse, in einem Atelier, das man nie richtig durchheizen konnte. Aber nur da vermochte sie zu leben, in diesem Atelier, wo sich der Raum ihren Übungen und Drehungen gehorsam fügte. Staubige Makartsträuße schmückten den hallenden Saal, und dann auch noch Tierbilder, die der frühere Mieter des Ateliers, ein steirischer Maler, dem Hausbesitzer anstelle der Miete zurückgelassen hatte. Schafe waren sein Lieblingssujet gewesen. Aus allen Winkeln des großen Raums starrten dem Besucher traurige Schafe entgegen, mit fragendem und wässrigem, leerem Blick. Hier lebte Veronika, die Tänzerin, zwischen verstaubten Vorhängen und abgewetzten Möbeln. Schon im Treppenhaus roch es nach ihren starken Duftessenzen, nach Rosenöl und französischen Parfüms. An einem Sommerabend gingen sie zu dritt zum Abendessen. Daran erinnert er sich jetzt ganz deutlich, als betrachte er ein Bild durch die Lupe. Es war in einem Waldgasthof in der Umgebung von Wien. Sie waren mit dem Wagen hingefahren, durch den schweren Laubgeruch der Wälder. Die Tänzerin trug einen breitkrempigen Florentinerhut, halblange weiße gehäkelte Handschuhe, ein in der Hüfte enganliegendes rosa Seidenkleid und schwarze Seidenschuhe. Auch in puncto schlechter Geschmack war sie vollkommen. Sie trippelte unsicher über den Kiesweg unter den Bäumen, als wäre jeder Schritt auf Erden, der sie auf handfeste Ziele, etwa auf einen Gasthof, zuführte, ihrer Füße unwürdig. So wie eine Stradivari-Geige für Höheres bestimmt ist als für Kneipenlieder, so hütete sie ihre Beine, diese Kunstwerke, deren einzige Bestimmung nur der Tanz sein konnte, die Aufhebung der irdischen Beschwerlichkeiten, der traurigen Beschränkungen des Körpers. Sie aßen im Hof eines mit wildem Wein bewachsenen einfachen Landhauses, bei glasgeschütztem Kerzenlicht. Tranken leichten Rotwein dazu, und die junge Frau lachte viel. Als sie auf der Rückfahrt durch die mondbeschienene Nacht von einem Hügel aus die im weißen Licht schimmernde Stadt erblickten, fiel ihnen Veronika selbstvergessen um den Hals. Es war der Augenblick des Glücks, des unbeschwerten Seins. Stumm begleiteten sie die Tänzerin nach Hause, und im Tor des muffigen Innenstadthauses verabschiedeten sie sich mit Handkuss. Veronika. Und Angela mit den Pferden. Und all die anderen, mit Blumen im Haar, in einem langen Reigen vorbeitanzend, Blumen, Blätter, Bänder und lange Handschuhe hinterlassend. Diese Frauen hatten den Rausch der ersten Liebesabenteuer in ihr Leben gebracht und all das, was die Liebe bedeutet: Sehnsucht, Eifersucht und das Hadern mit der Einsamkeit. Doch hinter den Frauen, den Rollen, dem Gesellschaftsleben schwebte ein Gefühl, das stärker war als alles andere. Ein Gefühl, das nur die Männer kennen: Freundschaft ist sein Name.
8
Der General kleidete sich an, ohne nach dem Diener zu klingeln. Er holte die Paradeuniform aus dem Schrank und betrachtete sie lange. Seit Jahrzehnten hatte er keine Uniform mehr getragen. Er zog eine Schublade auf, holte seine Orden heraus, hob sie aus ihren mit rotweißgrüner Seide ausgeschlagenen Etuis. Wie er die bronzenen, silbernen und goldenen Ehrenzeichen in der Hand hielt und betastete, erschien ihm das Bild eines Brückenkopfes am Dnjepr oder einer Parade in Wien oder eines Empfangs in der Burg von Buda. Er zuckte mit den Schultern. Was hatte das Leben gebracht? Pflichten und Eitelkeit. Gleich einem Kartenspieler, der nach einer großen Partie die bunten Spielmarken zerstreut zusammenkehrt, ließ er die Orden in die Schublade zurückgleiten.
Er legte einen schwarzen Anzug an, band sich die weiße Pikeekrawatte um und fuhr mit einer nassen Bürste durch sein weißes Borstenhaar. In den letzten Jahren trug er immer diese priesterlich strenge Kleidung. Er trat an seinen Schreibtisch, klaubte mit einer unsicheren, ältlich zitternden Hand einen winzigen Schlüssel aus seiner Brieftasche und öffnete damit eine lange, tiefe Schublade. Einem Geheimfach entnahm er verschiedene Gegenstände: einen belgischen Revolver, einen Packen Briefe, zusammengehalten von einem blauen Band, und ein in gelben Samt gebundenes Buch, auf dessen Deckel in Goldbuchstaben Souvenir geprägt war. Auch das Buch war mit einem
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